Ignoranz nach Wahl-Debakel - Einfach „Weiter so“ nach 16-Prozent-Fiasko: Jetzt verzwergt sich die SPD selbst
Nach einem „Generationswechsel“ rief Lars Klingbeil, da waren die Wahllokale am Sonntag gerade einmal eine Stunde geschlossen. Noch am Wahlabend bewarb sich der SPD-Chef um den Fraktionsvorsitz. Nun will sich Klingbeil zum Nachfolger von Rolf Mützenich wählen lassen.
Sie habe in den letzten fünf Jahren an der „breiten und tiefen Verankerung der Partei im Land mit großer Freude“ gearbeitet, sagte die SPD-Vorsitzende Saskia Esken am Montag, „und das gedenke ich auch weiter zu tun“. Der Parteivorstand, der parallel tagte, erfuhr das aus den Medien.
Breite Verankerung, große Freude, Einbahn-Kommunikation. War was?
Mit kümmerlichen 16,4 Prozent hat die SPD am Sonntag ihr schlechtestes Ergebnis bei einer nationalen Wahl seit 1887 eingefahren. Nur noch 120 Abgeordnete gehören ihrer Fraktion an, bisher waren es 207.
SPD-Führung verweigert persönliche Konsequenzen
Wenn am Mittwoch die kleinste SPD-Fraktion in der Geschichte des Bundestages tagen wird, muss sie damit rechnen, ihren Otto-Wels-Saal bald der AfD abtreten zu müssen. Nach nur gut drei Jahren wurde Kanzler Olaf Scholz (SPD) abgewählt. Wie war das noch mit dem „sozialdemokratischen Jahrzehnt“?
Das alles müsste die Genossen bis ins Mark erschüttern. Aber ihre Führung verweigert persönliche Konsequenzen in einer Art und Weise, die einen zornig werden lassen könnte. Neben Esken macht auch SPD-Generalsekretär Matthias Miersch keine Anstalten, sich zurückzuziehen.
Angeblich liebäugelt Klingbeil mit einem Ministeramt
Klingbeil wiederum will nicht nur weitermachen, sondern seine Macht noch ausbauen. Selbst der Fraktionsvorsitz könnte für Klingbeil nur ein Sprungbrett sein.
Angeblich liebäugelt er mit einem Ministeramt, dem Vernehmen nach auch mit der Vizekanzlerschaft.
Was ist bloß los bei der SPD?
Während Robert Habeck auf Spitzenämter verzichten will und Christian Lindner gar die Politik verlässt, tritt Saskia Esken so auf, als habe die SPD bei einer Landtagswahl in Sachsen-Anhalt einen halben Prozentpunkt verloren.
Sie tut so, als sei nichts passiert, gratulierte am Dienstag dem „engagiertesten SPD-Wahlkämpfer“ Olaf Scholz und erinnerte an dessen 50-jährige SPD-Mitgliedschaft. Klingbeils Ruf nach einem „Generationswechsel“ war in Wahrheit die Überschrift zu einem Bewerbungsschreiben.
Fast jeder in der SPD sagt, teils hinter vorgehaltener Hand: Pistorius hätte besser abgeschnitten als Scholz
„Weiter so, SPD?“ Ernsthaft? Zählt denn das Leistungsprinzip in der stolzen, ältesten Partei Deutschlands gar nichts mehr? Während Klingbeil und Esken ihre Posten zu sichern versuchen, bleibt der mit Abstand beliebteste deutsche Politiker, Verteidigungsminister Boris Pistorius, unerwähnt.
Fast jeder in der SPD sagt, teils hinter vorgehaltener Hand: Ein Kanzlerkandidat Pistorius hätte besser abgeschnitten als Scholz, vielleicht sogar gegen Friedrich Merz gewonnen. Es war ein schwerer Fehler der SPD-Spitze, Pistorius nicht durchzusetzen, nicht zu nominieren.
Im Wahlkampf, zu Beginn des dritten Rezessionsjahres, floskelte die SPD an den Themen, die die Menschen bewegen, vorbei. Esken forderte gar, „nicht zu viel“ über Migration zu reden.
Mit ihrem 16-Prozent-Debakel wird die SPD von einer Volks- zur Funktionspartei
Wäre es nicht höchste Zeit, diese Fehlerserie zu beenden? Also stärker auf Pistorius zu setzen? Ob es zu einer Regierungsbeteiligung komme, sei offen, behauptet Klingbeil. Wirklich? Wenn das so wäre, heißt es, dass die SPD im Falle des Falles allein auf Klingbeil, Esken und Miersch setzt. Wo wäre da die „personelle Neuaufstellung“, die Klingbeil am Wahlabend ankündigte?
Viele Wählerinnen und Wähler, die noch 2021 für die SPD gestimmt hatten, spüren, dass sich die Sozialdemokraten nicht für ihre Interessen einsetzen. Es gab weder „Respekt“ noch Führung. Die Fokussierung auf Nischenthemen, Bürgergeld-Empfänger und Mindestlohn-Bezieher hat viele einstige Wähler vertrieben. Wie oft will Klingbeil eigentlich noch folgenlos die „arbeitende Mitte“ beschwören? Kulturell ist die SPD geradezu ausgeblutet.
Mit einem „Weiter so“ gefährdet die SPD selbst ihre neue Scharnierfunktion
Mit ihrem 16-Prozent-Debakel wird die SPD von einer Volks- zur Funktionspartei, zur Mehrheitsbeschafferin, wie es einst die FDP war. Noch lebt die SPD vom Vorteil, dass sie im Bund unentbehrlich ist.
Die SPD „kann“ mit Union, Grünen, FDP, in den Ländern gar mit Linken und BSW. Mit einem „Weiter so“ aber gefährdet sie selbst ihre neue Scharnierfunktion, ihre Rolle als Funktionspartei.
Die Wähler haben die SPD am Sonntag geschrumpft. Vielleicht sollten die Sozialdemokraten darauf verzichten, sich nun auch noch selbst zu verzwergen.
Von Daniel Friedrich Sturm
Das Original zu diesem Beitrag "„Weiter so“ nach 16-Prozent-Debakel: Die Sozialdemokratie verzwergt" stammt von Tagesspiegel.