Notlösung an der Front? Putins Armee schießt künftig mit Billig-Gewehren

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Je mehr Männer fallen, desto mehr Gewehre baut Russland. Die Qualität sinkt, aber die Patronen werden tödlicher. Russland will mit den USA mithalten.

Moskau – Die Amerikaner machen ihren Sturmgewehren jetzt Feuer, und Russland zieht nach – davon jedenfalls berichtet das Magazin Spartanat unter Rückgriff auf Firmeninformationen der russischen Waffenschmiede Kalaschnikow. Demnach hat das Unternehmen ein neues Patent angemeldet für eine inländische 6-mm-Gefechtspatrone mit erhöhter Durchschlagskraft. Die unter Berücksichtigung dieses Patents entwickelte neue Patronengröße erhielt die Bezeichnung 6,02x41; die Entwicklung zieht auch Modifikationen an der Waffe selbst nach sich.

Die Erkenntnisse des jetzt fast zwei Jahren währenden Ukraine-Krieges haben die Entwicklung teilweise zusätzlich beschleunigt. Wie in der gesamten Entwicklung der Waffen insgesamt bedingen sich der Fortschritt des individuellen Schutzes und der Durchschlagskraft der Waffen gegenseitig – so war beispielsweise die Panzerung der Ritter wesentlicher Motor zur Entwicklung der Feuerwaffe. So geht auch der Zwang zu neuer, automatischer Munition auf die ständige Verbesserung des persönlichen Panzerschutzes der Soldaten zurück. Die sowjetisch-russischen und amerikanischen Kaliber 5,45x39 und 5,56x45 mm scheinen mittlerweile zu wenig Wirkung zu zeitigen. Damit wäre allerdings auch die Zeit für das erfolgreichste Sturmgewehr der Menschheitsgeschichte langsam abgelaufen. Die Russen specken an der Waffe ab.

„Asow“-Soldaten während einer Übung. Die Brigade hat sich neu aufgestellt und kämpft wieder an der Front.
Das Arbeitspferd vieler Armeen: die Kalaschnikow in verschiedenen Modell-Varianten. Rund 100 Millionen der AK47 sollen weltweit in Umlauf sein. Jetzt produziert Russland Billigmodelle. (Archivbild) © James Sprankle/dpa

Moderne Schutzwesten der Soldaten reduzieren zunehmend die effektive Schussreichweite von automatischen Gewehren auf typische Ziele, schränken also wiederum die taktischen Fähigkeiten angreifender Soldaten ein und zwingen Waffen- und Munitionsentwickler zu neuen Lösungen. Aktuell nutzt die Armee Russlands das Ak-12 – zu deutsch: Automat Kalaschnikow Modell 2012. Eines der ersten Modelle dieser Bauart und bis heute weltweit verbreitet, ist das AK-47 – dessen Grundgedanke wird mit der neuen Patrone wieder aufgegriffen.

Putins Taktik: Mit Mensch und Material die Gegner niederwalzen

Wladimir Putins Armee setzt auf die Masse an Mensch und Material, das den Gegner schlichtweg niederwalzen soll, wie auch jetzt in der Ukraine beispielsweise in den blutigen Kämpfen um Awdiijka zu erkennen ist: In Schützenpanzern rollt Infanterie auf breiter Front möglichst nah an den Feind heran, und die einzelnen Schützen sollen nach dem Absitzen den Feind während ihres weiteren Vorrückens mit ungezielten längeren Feuerstößen aus der Hüfte niederhalten. Zum gezielten Einzelschuss sollen sie erst dann übergehen, wenn einzelne Ziele erkennbar sind, und die Schützen sich in Deckung begeben können. Bereits im und spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg waren westliche Waffen genau entgegengesetzt konstruiert: Westliche Schützen sollten den Feind solange mit Einzelfeuer niederhalten, bis er nahe genug war, dass man ihn mit kurzen Feuerstößen gezielt bekämpfen konnte.

Ich stelle mir immer wieder dieselbe unlösbare Frage: Falls mein Sturmgewehr Menschen das Leben nahm, bedeutet das, dass ich, Michail Kalaschnikow, Sohn eines Bauern und orthodoxen Christen, verantwortlich für den Tod von Menschen bin?

Laut Firmeninformationen ist das neue Kalaschnikow-Kaliber allerdings aktuell lediglich eine Nenngröße, an der sich die endgültigen Eigenschaften der Patrone herauskristallisieren werden. Die vorgestellte Patrone soll gegenüber den bisherigen Standardkalibern 5,45 oder 7,62×39 mm die gleiche Energie wie diese auf einer fast doppelt so großen Distanz freisetzen können, also auf fast 1000 statt der bisher üblichen 500 bis 600 Meter. Anpassungen der modifizierten Waffe werden beispielsweise an der neuen Krümmung des Magazins klar sichtbar werden.

Der Zweite Weltkrieg bedeutete ein Trauma für die russische Führung. Die AK-47 hatte der 1919 geborene Michail Kalaschnikow während dieses Krieges entwickelt, als er sich von einer Frontverletzung erholte. Er war an der Schulter verwundet und tüftelte nun an einer, wie der Mitteldeutsche Rundfunk wiedergibt, „perfekten Waffe zum Schutz der Heimat“ – leicht zu bedienen, von geringem Gewicht und unverwüstlich. 

Laut der Fachpresse hat der Hersteller Kalaschnikow nach Firmenangaben aus dem August die Konstruktion für die Serienfertigung der bereits Anfang des Jahres angekündigten neuen Version der AK-12 längst abgeschlossen. Entgegen Äußerungen zu Beginn 2023 betont die aktuelle Mitteilung, weniger die Umsetzung der Erfahrungen aus dem Krieg in der Ukraine habe die Entwicklung forciert, sondern die Fokussierung auf Vereinfachung der Fertigung. Insofern sind die Verluste der russischen Truppen aber doch Grundlage der Konstruktion, wie das Portal Soldat & Technik schreibt – der Bedarf der russischen Streitkräfte steigt stetig: „Laut Mitteilung des Herstellers sei in diesem Jahr eine Rekordmenge in der Fertigung nötig, um die angeforderte Stückzahl zu realisieren und es stehe bereits fest, dass für 2024 eine weitere Kapazitätssteigerung erreicht werden müsse. Dies sei nur durch eine leichtere und schnellere Herstellung der Waffen zu erreichen.“

Russlands Waffen: Um so primitiver, je länger der Krieg dauert

Deutliche Vereinfachungen sieht die Fachpresse in der Sicherung und einem vereinfachten Mündungsdämpfer umgesetzt – Soldat & Technik rechnet auf die weitere Dauer des Ukraine-Krieges mit einer weiteren Reduktion der Komplexität der Waffe. Mit der Patrone reagieren die Russen aber klar auf Aktivitäten der Amerikaner, die nach Brancheninformationen bereits seit mindestens fünf Jahren an größeren Kalibern und entsprechenden neuen Waffen tüfteln. Seit mittlerweile drei Jahren ist klar, dass die Amerikaner für mehr als 20 Millionen Dollar neue Munition und Gewehre von der ursprünglich deutsch-schweizerischen Firma Sig Sauer haben entwickeln lassen. Die Waffen verschießen die ebenfalls von Sig Sauer entwickelte Hybridmunition im Kaliber 6,8x51 mm. Insofern ziehen die Russen jetzt lediglich nach.

Laut Soldat & Technik ist das 6,8-mm-Projektil von der US-Armee vorgegeben worden. Das neu entwickelte „6.8 General Purpose Projectile“ soll eine Reichweite von mindestens 600 Metern haben und damit die Haupt-Kampfentfernung des bisherigen amerikanischen Standardgewehrs M16/M4A1 verdoppeln. Ebenso soll es jede derzeit und absehbar genutzte ballistische Körperschutzausstattung durchschlagen können. Ein entsprechender Auftrag über die Entwicklung, Kapazitäts- und Produktionsplanung sowie Vorbereitung auf die Vorserien-Produktion von Munition im Kaliber 6,8x51 mm im Wert von 20 Millionen US-Dollar wurde durch die U.S. Army bereits vor wenigen Monaten an den US-Munitionshersteller Winchester vergeben.

Kalaschnikows Erfindung: Mehr Tote als durch irgendeine andere Waffe

Zum Vergleich nutzt die Bundeswehr als Standardbewaffnung das Gewehr G36. Das verschießt das Kaliber 5,56x45 mm auf eine maximale Kampfentfernung von 500 Metern. Laut dem MDR zweifelte Kalaschnikow mit zunehmendem Alter immer stärker an seiner Erfindung. „In einem Interview hatte er 2007 noch gesagt: „,Ich schlafe gut. Es sind die Politiker, die dafür verantwortlich zu machen sind, nicht zu einer Vereinbarung zu kommen und auf Gewalt zurückzugreifen.‘ Kurz vor seinem Tod 2013 aber hatte Michail Kalaschnikow einen reumütigen Brief an das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche geschrieben. Darin fragte er Patriarch Kiril, ob er für den Tod der Menschen verantwortlich zu machen sei, die mit seinem Sturmgewehr getötet wurden. ,Der Schmerz in meiner Seele ist unerträglich‘, schreibt er.

Fakt ist, mit seiner Erfindung sind mehr Menschen getötet worden, als mit irgendeiner anderen Waffe; neben den Gegnern der Nutzer aber auch Nutzer selbst, die mit dieser Waffe in der Hand fallen. Weiterhin ist an den Verlusten der Truppen Putins erkennbar, dass die Invasion in der Ukraine noch stärker als bisher mit ver­alteten, hauptsächlich auf Masse beruhenden Konzepten von Kriegsführung fort­ge­setzt wird. Historiker hatten dieses Verhalten aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg als „Taktik der menschlichen Welle“ bezeichnet und damit das Überrennen des Gegners mit der schieren Zahl an mehr oder weniger gut ausgerüsteten oder mehr oder minder gut ausgebildeten Soldaten gemeint. Mit dem Eingraben der Russen vor der jetzt weiter laufenden Gegenoffensive der Ukraine war dieses Konzept allerdings zunächst gescheitert.

Am Prinzip der russischen Kriegführung wird das aber wenig ändern, urteilen Experten. Die russische Taktik ist grundverkehrt; zumindest in den Augen von amerikanischen Militärexperten. Im Online-Magazin War on the Rocks räumen sie der Gegenoffensive der Ukraine weiterhin gute Chancen ein, denn nach Auffassung der Autoren spielen ihnen die russischen Besatzer weiterhin in die Karten. „Angesichts der verfügbaren Mannschaften kämpfen die Russen zu aggressiv und zu übermütig“, urteilen Michael Kofman und Rob Lee. Entscheidend seien die Zahlen der Verluste und die der Reserve. Beide Beobachter werfen dem Westen eine zu engstirnige und ungeduldige Beurteilung der Lage vor. Der Krieg in der Ukraine ist inzwischen das, was er nie werden sollte: ein Stellungskrieg, der sich von Schützengraben zu Schützengraben zieht und viel Bewegung mit wenig Raumgewinn belohnt. Kofman: „Dieser Krieg hat sich zu einem Krieg um Baumreihen entwickelt. Die Unterschiede in den Frontverläufen erschöpfen sich in ein paar Hundert Metern.“ Im Duell Mann gegen Mann.

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