Der Flut-Retter, der sich heute für die Ahr-Senioren einsetzt
Oliver Piel erinnert sich genau an die Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli 2021. Bis 22 Uhr saßen die Gäste noch entspannt im Bistro der Jugendherberge Ahrweiler – dann stieg das Wasser plötzlich und unaufhaltsam. Mit rund 100 Gästen, darunter Schulklassen und kleine Kinder, brachte Piel alle in den ersten Stock, während das Haus zur Insel im Flutwasser wurde. Eine Gruppe Jugendlicher und ihre Betreuer waren die einzige, die das Gebäude verließ – ihr Schicksal blieb lange ungewiss.
Trotz des Schocks stand Piel schnell auf: Bereits am 1. November 2021 öffnete die Jugendherberge als erstes Gästehaus im Ahrtal wieder. Heute, vier Jahre später, ist Piel stellvertretender Direktor einer Seniorenresidenz in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Zum Jahrestag spricht er über den Wiederaufbau und seine Kritik am aktuellen Stand.
"Wir haben nach der Flut auf ein Trümmerfeld geschaut"
"Rückblickend war es eine sehr herausfordernde Zeit. Wir haben am 15. Juli 2021 auf ein Trümmerfeld geschaut. Die gesamte untere Etage der Jugendherberge war überflutet. Fünf Tage nach der Flutnacht haben wir jedoch schon wieder Betroffene und Helfer aufgenommen. Wir haben uns zuerst mit Notstromaggregaten beholfen. Nach einigen Wochen gab es wieder Wasser und Strom. Am 1. November 2021 haben wir die Jugendherberge Ahrweiler wieder im Normalbetrieb geöffnet. Als erster betroffener Unterkunftsbetrieb im Ahrtal. Das war eine Herkulesleistung unseres Teams.
Niemand hatte uns in der Flutnacht gewarnt. Wir waren komplett auf uns allein gestellt und können froh sein, dass niemand von unseren Gästen zu Schaden gekommen ist.
"Ich kann nicht verstehen, dass es keine Evakuierungspläne gibt"
Die Fragen, die mich im Moment am meisten beschäftigen: Was würde passieren, wenn es heute ein ähnliches Ereignis geben würde? Gibt es endlich Evakuierungs- und Katastrophenschutzpläne? Sind die damaligen Pläne, falls es denn welche gab, mit dem Wissen von heute überarbeitet worden? Gibt es einen Evakuierungskonzept auf Kreisebene, um die Anwohner zu warnen? In unserer Seniorenresidenz ist dies lebenswichtig, weil bei uns hilfsbedürftige Bewohner leben.
Die Antwort lautet in allen Fällen: Nein. Es gibt auch vier Jahre nach der Flut keinen Evakuierungsplan – auch nicht für vulnerable Gruppen wie die Bewohner in unserem Haus. Katastrophenschutz-Pläne werden offenbar nicht priorisiert. Es gibt einfach kein Konzept. Traurig ist das! Es hat sich in der Hinsicht noch gar nichts bewegt.
Wenn die Flut morgen wiederkäme, müssten wir wieder alles selbst machen, wie damals in der Jugendherberge, als ich mit den Gästen in die erste Etage flüchten musste, und keiner wusste, was zu tun ist und keine Warnungen kamen, um die Menschen rechtzeitig woanders hin zu evakuieren. Und genau wie in der Villa Sibilla, in der die Pfleger die hilfsbedürftigen Bewohner in der Nacht im Dunkeln in den ersten Stock in Sicherheit brachten und ohne Strom ausharren mussten.
Das jedenfalls würde heute nicht mehr passieren. Wir könnten agieren, weil wir ein eigenes Notstromaggregat haben. Es gäbe wahrscheinlich auch keine Flut wie 2021, da es die Brücken nicht mehr gibt, an denen sich alles staute. Wir haben einen Selbstschutz organisiert. Ich finde, das Ahrtal sollte sich ein Beispiel an Blatten in der Schweiz nehmen. Dort wurden beim Gletscherabbruch rechtzeitig alle 306 Menschen evakuiert, niemand starb.

"Die Frage der Verantwortung ist bis heute nicht geklärt"
Vier Punkte kritisiere ich besonders. Erstens: Die juristische Aufarbeitung fehlt. Die Frage der Verantwortung ist bis heute nicht geklärt, weil das Ermittlungsverfahren gegen den damaligen Landrat Jürgen Pföhler eingestellt wurde. In diesem Verfahren musste ich zwei Stunden lang bei der Polizei aussagen. Ich musste den Hergang der Nacht schildern, ihn mit Handyfotos dokumentieren, sagen, zu welcher Zeit das Wasser wie hoch stand.
Bei uns gab es keine Warnung - weder von der Feuerwehr noch von irgendwem. Damals wurde kein Katastrophenalarm ausgelöst, jedenfalls haben wir davon nichts mitbekommen. Es ging um über 100 Personen. Mit der Schulklasse und den weiteren Gästen haben wir die Nacht in den oberen Etagen verbracht, andere sind in der Dunkelheit in die Weinberge gelaufen. Wir wussten nicht, ob sie überleben würden. Als wir vom ersten Stock aus auf das steigende dunkle Wasser schauten, bedankte sich der Klassenlehrer einer Schulklasse, dass ich seinen Schülerinnen und Schüler verboten hatte, rauszugehen, nachdem Wasser schon in den Haupteingang kam. „Sie haben uns allen wahrscheinlich das Leben gerettet“, sagte er damals.
"Mein Sohn verbringt seine Schulzeit in einer Containerschule"
Zweitens: der Wiederaufbau. Es geht sehr langsam, zu langsam. In Altenahr zum Beispiel wurden drei Brückenstandorte geprüft, um eine Brücke zur Jugendherberge zu bauen. Verschiedene Interessengruppen können sich nicht einigen, daher gibt es vier Jahre nach der Katastrophe noch immer keine Brücke zur Jugendherberge.
Oder die Schulen: Die Schülerinnen und Schüler der Don Bosco Schule, des Are Gymnasiums, der Berufsbildenden Schule oder der Grundschule Dernau werden weiter in Containern unterrichtet.
Die Brücken stehen nicht, die Radwege fehlen, ein Großteil der Infrastruktur fehlt. Zunächst hieß es, wir im Ahrtal müssten eine Sondergenehmigung für den Wiederaufbau bekommen, daraus wurde nichts.
Ich habe mich damit abgefunden, dass wir im Ahrtal auf lange Zeit hinaus nirgendwo ein Hallenschwimmbad nutzen können und mein Sohn weiter in einer Container-Schule sitzt, dass Turnhallen fehlen.
"Verbesserungen im Hochwasserschutz sehe ich nicht"
Drittens: die Bürokratie. Es gibt immer Ärger mit den Genehmigungsbehörden. Auf allen Ebenen.
Viertens: der Hochwasserschutz. Verbesserungen im Hochwasserschutz sehe ich nicht. Die Dämme für die geplante Regenrückhaltung werden frühestens in 20 Jahren stehen. Das sind alles in weiten Teilen unhaltbare Zustände!
Welche Gedanken und Gefühle ich zum Gedenktag am 14. Juli habe? Wenn rechtzeitig gewarnt worden wäre, hätten nicht so viele Menschen sterben müssen, und wir müssten nicht dieses unermessliche Leid beklagen. Wenn man an die ganzen Schicksale der 135 Toten und ihren Angehörigen und an die vielen Verletzten denkt - es ist sehr traurig.
Aus der Flutkatastrophe habe ich persönlich nicht viel gelernt. Wir haben in dieser Nacht besonnen reagiert. Wir haben damals die Ärmel hochgekrempelt, nicht den Kopf in den Sand gesteckt, und alles wieder schnell und noch schöner aufgebaut.
Die Katastrophe hat mir jedoch gezeigt, wie schnell alles vorbei sein kann – durch den Tod oder durch den völligen Zusammenbruch der Infrastruktur.
Was mich hält, sind meine Familie, meine Freunde – und die Hoffnung auf ein lebenswertes Ahrtal. Ich wünsche mir, dass unsere Region wieder so schön und lebenswert wird wie vor der Flut."
Protokolliert von Frank Gerstenberg