Das Solar-verrückte Land, in dem Panels als Hochzeitsmitgift verschenkt werden
Solar, so weit das Auge reicht? Das könnte bald zur Realität werden, und zwar in Pakistan: Wo erst kürzlich ein bewaffneter Konflikt mit Nachbar Indien drohte, haben sich innerhalb der letzten zwei Jahre die Zahlen an verkauften und installierten PV-Anlagen zu einer regelrechten Flut entwickelt. Fast ein Drittel der pakistanischen Stromerzeugungskapazitäten könnten damit gedeckt werden. Doch während der Boom vor allem Bauern und kleinere Unternehmen beglückt, sind die großen Stromversorger im Land alles andere als glücklich.
Solar-Boom in Pakistan: „Die Zahlen sind atemberaubend“
Fragt man Muhammad Mujahid, ist sein Urteil eindeutig: „Die Zahlen sind atemberaubend“, so der Chef einer pakistanischen Firma, die Solar-Panels verkauft, gegenüber der US-Nachrichtenagentur Bloomberg. Tatsächlich ist in den letzten fünf Jahren der Umsatz in Pakistan enorm angestiegen: Zwischen Januar und September 2020 wurden noch Lieferungen im Wert von 400 Millionen Dollar verzeichnet – für den gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres hingegen waren es bereits 1,7 Milliarden US-Dollar. Dabei sind die Panels mittlerweile so billig, dass einige Bauern sie schlichtweg auf den Boden legen, statt sie in einer Halterung zu montieren.
Solarpanels seien „kein Luxusgut mehr“, sagte der pakistanische Solarexperte Muhammad Mustafa Amjad dem US-Medium „Yale Environment 360“ der US-Eliteuniversität Yale. „Sie sind eine Notwendigkeit geworden.“ Bei Hochzeiten, erzählt Amjad, würden Solarmodule sogar als Mitgift überreicht.
Der Boom ist das Ergebnis einer Lockerung von Importbeschränkungen Pakistans, die eine Deckelung von chinesischen Importen vorsah. Seit diese gestrichen wurde – auch auf Druck Pekings – haben chinesische Produkte das Land regelrecht überrannt.
Die Endverbraucher freuen sich: Neben Privathaushalten sind es vor allem Fabriken und Bauern, die ihren eigenen Strom produzieren. Bloomberg schildert die Erzählung des Bauern Mohammad Murtaza, der laut eigener Aussage seine Stromrechnung um 80 Prozent reduzieren konnte. Durch die Panels habe Murtaza auch auf ein elektrisches Bewässerungssystem umsteigen können, statt teure Dieselpumpen zu verwenden. Dabei habe er so viel Geld gespart, sagte Murtaza zu Bloomberg, dass er pro Jahr nun drei statt zwei Pflanzen ansetzen kann.

Wenn die Stromrechnung höher als die Miete ist
Für viele pakistanische Verbraucherinnen und Verbrauchern ist die Solar-Revolution eine willkommene Möglichkeit, den heimischen Stromversorgern und deren hohen Preisen zu entkommen. In Pakistan liegt der staatlich festgelegte Strompreis nach Angaben der Energiebehörde NEPR bei 6,3 Cent pro Kilowattstunde – circa ein Sechstel des deutschen Strompreises. Allerdings ist das deutsche Durchschnittseinkommen auch zwanzigmal so hoch.
„Die Preise sind in den letzten Jahren um fast 155 Prozent gestiegen“, sagte der pakistanische Solarexperte Muhammad Mustafa Amjad dem US-Medium „Yale Environment 360“ der US-Eliteuniversität Yale. „Die Menschen haben mehr für Elektrizität bezahlt als für ihre Miete.“ Den pakistanischen Stromversorgern wiederum entgeht durch die große Kundenflucht aber immer mehr Geld – nach Behördenangaben knapp 8,6 Milliarden Dollar seit 2014.
Darunter leiden dann die übrigen Verbraucher, die noch bei den Stromversorgern unter Vertrag stehen: Beim Netzausbau muss gespart werden, die Instandhaltung leidet, Ausfälle werden wahrscheinlicher. Auch Solarunternehmer Mujahid sieht die Gefahr einer „Todesspirale für Versorger“, sagte er zu Bloomberg.
Klimaziele versus Netzstabilität
Auf der anderen Seite stehen die Ausbauziele des Landes: Bis Ende des Jahrzehnts will Pakistan insgesamt 60 Prozent seines Stroms aus Erneuerbaren Energien zu produzieren. Auf Regierungsebene hingegen befürchtet man, der Boom des selbsterzeugten Stroms könnte dazu führen, dass große Kraftwerke irgendwann überflüssig werden. Bezahlt und betrieben werden müssen sie trotzdem, so sehen es die Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) vor, von dem sich Pakistan Geld geliehen hat.
Doch selbst eine Deckelung des Solarstroms im Netz könnte nicht den gewünschten Effekt bringen: Es gibt keine offiziellen Erhebungen darüber, wie viele Solarpanels wirklich in Betrieb sind – den Behörden bleibt also nichts anderes übrig, als grobe Schätzungen anzustellen.
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