Ex-VW-Chef über E-Auto-Revolution: „Wir kriegen es nicht gebacken“
Die Nachricht sorgte für Aufsehen: Ende Juni kündigte der britische Energieversorger Octopus Energy sein „Power Pack“-Angebot mit dem chinesischen E-Autohersteller BYD an. Das Prinzip: Für umgerechnet knapp 350 Euro im Monat können Kundinnen und Kunden ein Modell von BYD leasen und erhalten dazu einen sogenannten intelligenten Stromtarif.
Mit dem Angebot lässt sich die Batterie des E-Autos als Speicher in beide Richtungen nutzen. Die Batterie lädt nicht nur Strom aus dem Netz, sie gibt ihn auch wieder dorthin ab – je nachdem, wie günstig oder teuer der Strom gerade ist. Unter Fachleuten ist diese Technologie als „Vehicle to Grid“ (V2G) bekannt. Octopus Energy handelt dann mit dem Strom an den Börsen, den Erlös teilen Unternehmen und Kunde untereinander auf. Auf diese Weise soll das Fahren eines E-Autos unterm Strich kostenlos werden – ein potenzieller Gamechanger für Verkehrs- und Energiewende.
Und ein gutes Geschäft, glaubt Herbert Diess. Der ehemalige Volkswagen-Chef ist mittlerweile Verwaltungsratsvorsitzender des deutsch-schweizerischen Unternehmen The Mobility House, die die V2G-Technik bereits in Frankreich an den Start gebracht hat. In Deutschland jedoch ist V2G noch nicht möglich. Warum?
FOCUS online Earth: Herr Diess, in Großbritannien können Besitzerinnen und Besitzer von E-Autos seit wenigen Wochen die sogenannte „Vehicle to Grid“-Technologie (V2G) nutzen. Als jemand, der bereits seit einiger Zeit versucht, V2G in Deutschland zu etablieren: Empfinden Sie da Neid beim Blick auf die Insel?
Herbert Diess: Nein, das ist erstmal eine große Freude. Noch ist das ja ein sehr komplexes Thema, an das viele Menschen noch nicht glauben. Je mehr wirklich greifbare Kundenlösungen jetzt da sind, desto besser ist es für die Entwicklung dieser Industrie. In Frankreich haben wir mit The Mobility House auch schon eine Lösung im Markt. Es freut mich, dass man jetzt nicht nur in Frankreich quasi umsonst Auto fahren kann, sondern auch in Großbritannien.
Für die deutsche Autobranche bedeuten die Entwicklungen im Ausland aber vermutlich nichts Gutes. Das Angebot in Frankreich setzen Sie zusammen mit Renault um, in Großbritannien sind die Chinesen von BYD mit im Boot. Droht die deutsche Industrie abgehängt zu werden?
Diess: Ja, das besorgt mich auch ein bisschen. Ich dachte, es wäre eine Technologie, wo die deutschen Automobilhersteller vorne dabei sind, weil ich weiß, dass sie schon lange daran arbeiten. Aber wieder ist es ein chinesischer Hersteller, der voranschreitet. Das hatte ich nicht erhofft. Bei aller Freude ist das also auch ein Weckruf an die deutsche Regulatorik, an die Netzbetreiber, an die Verbände, etwa Frau Müller vom Verband der Automobilindustrie (Hildegard Müller, Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie VDA, Anm. d. Red.). Wir müssen schnell etwas tun. In Deutschland ist es wirklich so, dass nicht die Technik fehlt, sondern die regulatorischen Rahmenbedingungen.
Herbert Diess ist ein österreichischer Manager. Er ist Aufsichtsratvorsitzender des deutschen Halbleiterherstellers Infineon sowie Vorsitzender des Verwaltungsrats des Ladetechnik-Unternehmens The Mobility House. Von 2018 bis 2022 war er Chef der Volkswagen AG.
Welche Rahmenbedingungen meinen Sie? Warum ist die Technologie in Deutschland noch nicht umsetzbar?
Diess: Ein wichtiges Thema ist die doppelte Belastung durch die Netzentgelte. Ein Auto, das sowohl Strom laden als auch abgeben kann, muss beim Transfer in beide Richtungen Netzentgelte zahlen. Sieben bis acht Cent pro Kilowattstunde beim Laden, sieben bis acht Cent beim Entladen. Schon haben Sie pro Kilowattstunde 15 Cent an Kosten, die das Geschäftsmodell nicht verkraftet. Ohne dass sie Strom kaufen würden, sondern nur für das Benutzen der Netze. Und so kann es nicht funktionieren. Bei stationären Batteriespeichern hat der Gesetzgeber bereits festgelegt, dass die Netzbetreiber nur einmal Gebühren abkassieren dürfen. Zur Not muss man ihnen das eben aufzwingen.
Ließe sich dieses regulatorische Problem nicht relativ simpel lösen? Eine Gesetzesänderung oder eine Verordnung zulasten der Netzbetreiber würde reichen.
Diess: Kann man schon machen, aber man muss natürlich die Interessensvertreter anhören. In Deutschland gibt es mehr als 800 Netzbetreiber, die alle aufgefordert sind, massiv in die Netze zu investieren. Was passiert dadurch? Die Netze werden teurer. Das heißt, die Netzbetreiber brauchen Geld. Natürlich haben die einen Punkt, wenn sie sagen: Wir können nicht auf die doppelten Entgelte verzichten. Aber am Ende ist es eben Aufgabe der Politik, zu entscheiden, was im Interesse des Gemeinwohls liegt. Gleichzeitig muss man auch sehen: Wenn wir die Autobatterien im System haben, dann brauchen wir nicht so viel Netzausbau. Weil das Auto lädt ja nicht zu den Spitzenzeiten, sondern genau dann, wenn das Netz kaum ausgelastet ist. Zu den stark ausgelasteten Zeiten gibt das Auto sogar Strom zurück.
Allerdings sind in Frankreich mehr als 90 Prozent der Haushalte mit Smart Metern ausgestattet, intelligenten Stromzählern, die für die V2G-Technologie unerlässlich sind. In Deutschland sind es nach aktuellen Daten der Bundesnetzagentur nicht mal drei Prozent. Solange Deutschland hier nicht vorankommt, hat die Technologie doch ohnehin keine Chance, oder? Doppelte Netzgebühren hin oder her.
Diess: Da müssen wir jetzt wirklich mal vorankommen. All das steht auch im Koalitionsvertrag, von daher müsste es eigentlich funktionieren. Aber es ist dann eben in der politischen Umsetzung offensichtlich doch schwieriger. Die Lösungen entstehen jetzt um Deutschland herum und wir kriegen es nicht gebacken. Das finde ich schade. Wer kommt heute noch auf die Idee, einen Zähler abzulesen? Das ist wirklich etwas aus dem letzten Jahrhundert. Mittlerweile machen das nur noch wir in Deutschland.
Wie ernst nimmt die deutsche Autoindustrie das Thema? Hierzulande wird ja noch darüber diskutiert, ob der Verbrennungsmotor nicht vielleicht doch eine Zukunft hat. Parallel eine Zukunft mit E-Autos als Batteriespeicher zu planen, muss herausfordernd sein.
Diess: Allgemein ist es sicher so, dass diese neuen Elektrofahrzeughersteller, die keine Geschichte in der Verbrenner-Produktion haben, sich leichter tun mit der Idee, auch gleich die Energie mitzuverkaufen. Aber technisch ist man vorbereitet, die deutschen Modelle beherrschen die Technologie entweder schon oder sie kommt jetzt mit der nächsten Generation. Aber momentan haben die deutschen Hersteller wegen der Regulatorik noch keinen Heimatmarkt. Das macht es natürlich schwierig, anzufangen. Wenn wir weiterschlafen, dann wird es um uns herum überall funktionieren, nur in Deutschland nicht.
Aber warum macht dann die Autobranche nicht viel mehr Druck?
Diess: Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Auf der Agenda steht es bei allen, wenn Sie zum Beispiel mit Herrn Källenius (Mercedes-Chef Ola Källenius, Anm. d. Red.) sprechen oder eben mit Frau Müller. Die wollen das alle. Aber irgendjemand muss die Führung übernehmen. Meiner Meinung nach muss es der VDA sein, denn die Automobilindustrie hat die Kraft, um Dinge durchzusetzen. Vielleicht nimmt Frau Müller das Thema ja bald auf ihre Top-Agenda.
Beim derzeit schleppenden Absatz von Elektrofahrzeugen in Deutschland ist es vielleicht auch kein Wunder, dass die Autobranche die Technik nicht zu ihrer größten Priorität erklärt.
Diess: Das würde ich gar nicht mal unterstellen. Die Branche muss ja auch Grenzwerte zum CO2-Ausstoß erfüllen, die nur erreichbar sind mit einem vernünftigen Absatz von Elektrofahrzeugen. Ich glaube, man könnte diesen Absatz sogar deutlich beschleunigen, wenn man zum Kunden hingehen kann und sagt: Pass auf, kauf dir ein Elektrofahrzeug – das ist vielleicht ein bisschen teurer, aber dafür zahlst du keinen Sprit mehr.
Allerdings läuft selbst in Frankreich die Technologie erst langsam an. Ist das Kundeninteresse vielleicht einfach nicht so groß?
Diess: Ja, der Umlauf ist noch langsam. Das war aber zu erwarten: Schließlich müssen die Kunden auch erst einmal den Energievertrag wechseln und umstellen. Aber man weiß jetzt: Es funktioniert. Und wir wissen, dass auch die Rechnung funktioniert. Der Kunde zahlt nichts und es bleibt noch eine kleine Marge für Renault als Betreiber und für The Mobility House als Systemlieferant. Diese Spreads, also die Differenz zwischen niedrigen Energiekosten, wenn die Sonne scheint, und hohen Energiekosten, wenn die Sonne untergegangen ist – die gibt es ja überall.
Sie haben es gerade eben schon angesprochen: Gerade für Einsteiger ist das ganze Konzept sehr komplex. Mit dem Kauf eines E-Autos und dem richtigen Stromtarif ist es oft noch nicht getan. Kann das gerade für den deutschen Markt zum Hindernis werden?
Diess: Ja, natürlich ist es komplex. Ganz lange gab es gar keine bidirektionale Ladebox, die gibt es erst jetzt. Natürlich ist es auch eine Zusatzinvestition. Man braucht eine neue Ladestation dafür, eine neue Wallbox. Die ist auch nicht billig, aber wir kommen jetzt in Preisregionen, wo man die in einem Jahr praktisch abbezahlt hat. Und dann wird es sich lohnen. Das ist wie mit einer Solaranlage, die sich auch in wenigen Jahren amortisiert hat.
Herr Diess, letztes Jahr haben Sie bei uns im Interview prophezeit, dass die V2G-Technologie im Jahr 2026 oder 2027 in Deutschland an den Start gehen wird. Hand aufs Herz: Halten Sie das jetzt, im Sommer 2025, immer noch für einen realistischen Zeitplan?
Diess: Ja. Insbesondere, weil das Ausland jetzt langsam Druck macht.
Trotz fehlender Smart Meter?
Diess: Es muss ja nicht alles in einem Jahr passieren. Die Stadtwerke in München zum Beispiel könnten mal von Straße zu Straße gehen und einfach loslegen. Das ist mittlerweile keine teure Technik mehr. Wir müssen es einfach nur politisch wollen.
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