Ex-VW-Chef Herbert Diess im Interview - „Die Aufgabe Energiewende wird in Deutschland überschätzt“
Wie kann das gelingen? Wie kann etwa der deutsche Markt sicherstellen, dass er nicht abgehängt wird?
Diess: Es gibt bestimmte Technologien, mit denen sich die chinesischen Unternehmen noch nicht so sehr befasst haben. Vor allem wenn die Komplexität steigt. Da tun sich chinesische Unternehmen schwerer. Das Thema, das ich derzeit vorantreibe, ist das Nutzen der E-Auto-Speicher im Stromnetzwerk. Das wird fast zu einer Wunderformel: Man kann umsonst Elektroauto fahren und gleichzeitig mehr Erneuerbare Energien ins Netz stellen. Aber das ist sehr komplex, da geht es um Software und Systemwissen. Wir im Westen könnten da vorauseilen. Aber wir sollten nicht versuchen, die Chinesen zu kopieren bei dem, was sie wirklich gut können: Einfachere Prozesse in wahnsinnigen Skalen zu optimieren.
Aber Sie engagieren sich doch selbst in der Solarindustrie. Haben Sie vor einiger Zeit nicht angekündigt, dass Sie mithelfen wollen, die Solarindustrie hier in Europa zu halten?
Diess: Ja, das habe ich auch immer noch nicht aufgegeben (lacht). Das geht aber nur zusammen mit chinesischen Unternehmen. Ich habe versucht, chinesische Solarunternehmen hierherzubringen, in einem „Joint Venture“. Ich bin schon der Meinung, dass Europa an der Wertschöpfung partizipieren sollte. Es wäre auch prinzipiell gut, hier noch eigene Fertigungskapazitäten zu haben, zumal wir in dem Bereich auch über sehr gute Forschungseinrichtungen und eine hervorragende Werkzeugmaschinenindustrie verfügen.
Ich halte es bloß für unrealistisch, grundsätzlich unabhängig werden zu wollen von China. Als ich das Projekt begann, hatten wir einen ganz guten Plan, auch mit einem hohen Kapitalwert. Nur ist in diesen sechs Monaten Projektzeit der Preis für Solarmodule noch mal um 40 Prozent gefallen. Damit mussten wir den ersten Plan aufgeben, aber es gibt vielleicht noch einen weiteren.
Wenn es wirklich so ist, dass der Westen bei komplexeren Technologien einen großen Vorteil hat: Heißt das, wir überschätzen China?
Diess: Ach mein Gott, was heißt „überschätzen“? Natürlich müssen wir China ernstnehmen. Wir unterschätzen oft die Größe dieses Landes und dieses Marktes, den Fleiß und die Leistungsbereitschaft der Bevölkerung. Alleine beim Markt der Premiumfahrzeuge ist China so groß wie der Rest der Welt zusammengenommen. Sie können keine Premiumfahrzeuge anbieten, ohne den chinesischen Markt zu bedienen, das ist einfach eine Illusion. Was die Fähigkeiten angeht, überschätzen sich allerdings die Chinesen manchmal selbst.
Wie meinen Sie das?
Diess: Die Elektrofahrzeughersteller Chinas sind jetzt mit großem Schwung hierhergekommen und haben gedacht: Wir fahren ein paar Schiffe mit Elektroautos nach Deutschland und dann verkaufen wir die hier. Aber so geht es nicht. Man braucht Markenbildung, man braucht Marketing, man braucht ein vernünftiges Netzwerk an Handelsbetrieben, etwa bei der Versorgung mit Ersatzteilen. Da werden die chinesischen Hersteller sicherlich besser werden, aber das haben diese Unternehmen unterschätzt. Auch was Konsistenz und Design angeht. Einen BMW oder einen Porsche erkennen Sie aus 100 Metern, ganz egal, ob der 20 oder 30 Jahre alt ist. Das können sie von einem chinesischen Auto heute nicht sagen.
Stichwort deutsche Autos: Am Sonntag ist Europawahl, und während China versucht, mit E-Autos den Weltmarkt zu erobern, kommt zumindest in Deutschland wieder die Debatte über das Verbrennerverbot der EU auf. Halten Sie das Verbot für sinnvoll?
Diess: Ich finde es immer schlecht, wenn man mit Verboten argumentiert. Heizungsverbot, Verbrennerverbot, das muss nicht sein. Diese neue Welt ist ja auch von sich aus attraktiv. Es macht einfach Spaß, E-Auto zu fahren und eine Wärmepumpe zu haben und Solaranlagen am Dach und keine Stromrechnung zu zahlen. Wir versauern uns dieses großartige Erlebnis, wenn wir es mit einem Verbot garnieren.
In Ihrer Zeit als VW-Chef haben Sie sich allerdings auch nicht gegen das Verbot ausgesprochen.
Diess: Ich habe mich damals nicht dagegen gestellt, weil das Verbot auch Vorteile hat, zum Beispiel indem es eine gewisse Orientierung für den Kunden bietet. Der weiß dann: Okay, 2035 ist Schluss, ich fahre vielleicht noch zwei Verbrenner und dann schaue ich mal. Von daher fand ich das damals ganz okay. Ich habe es für ambitioniert gehalten wegen der nötigen Rohstoffe und Batterien. Aber jetzt diese Diskussion nochmal aufzumachen, finde ich sehr interessant.
Warum?
Diess: Die Union fordert jetzt ja sogar, dass Autokonzerne die im EU-Recht festgelegten Strafen nicht zahlen müssen sollen, wenn sie die CO2-Grenzwerte ihrer Flotte überschreiten. Dabei hat eine Unions-Regierung 2009 die Verträge geschlossen, in denen man die Flottenziele verabschiedet hat. Die wiederum haben letztlich diese ganzen Investitionen in Elektromobilität ausgelöst. Das hätte keiner getan ohne eine verbindliche Vorgabe für die Flottenziele. Dass die gleiche Partei 15 Jahre später plötzlich sagt: „Ihr müsst die Strafen nicht zahlen“… dann hätten sich die Automobilunternehmen natürlich viel Geld sparen können, wenn sie das früher gewusst hätten.
Agiert die Politik da oftmals zu sprunghaft? Mal hü, mal hott?
Diess: Planungssicherheit ist natürlich wichtig. Gerade die Autoindustrie plant sehr langfristig. So eine Investition in eine Automobilfabrik ist auf 40 Jahre ausgelegt, mindestens. Aber natürlich weiß die Industrie, dass die Politik nicht sehr zuverlässig ist. Deswegen arbeitet sie in Szenarien und Alternativen. Weiter Verbrenner zu bauen, ist ja erstmal überhaupt kein Problem für die Industrie.
Auch die aktuelle Ampelregierung gibt zumindest in ihrer Kommunikation kein einheitliches Bild ab. Inwiefern ist das problematisch für die Energie- und Klimawende in Deutschland?
Diess: Momentan weiß der Kunde nicht so recht, ob er jetzt wirklich eine Solaranlage kaufen soll oder eine Wallbox für das E-Auto – oder ob er lieber noch warten soll. Da bleibt halt alles offen. Und diese Strategie des Alles-Offenlassens, die wir heute haben, ist für mich eher eine Strategie, den Wandel zu verhindern. Was auch eine Logik haben kann, denn natürlich haben wir in Deutschland eine hohe Wertschöpfung mit dem Verbrennungsmotor. Denken Sie nur mal an die Zulieferer.
Es kann also im deutschen Interesse liegen, den technologischen Fortschritt zu bremsen?
Diess: Man kann diese Strategie schon fahren, um möglichst lange den Status Quo in Deutschland aufrechtzuhalten. Die Welt wird das nicht verändern. Aber auch für die Industrie ist es nicht gut, weil man dann dazu neigt, den Wandel zu verschlafen - und weil man dann nicht diesen Vorteil von einem starken Heimatmarkt hat. Bei Premium-Fahrzeugen haben wir diesen Vorteil: Der Premium-Marktanteil ist 30 Prozent in Deutschland. Das ist uneinnehmbar, diese Festung. Der Leitmarkt für Elektromobilität wird jetzt eben China sein. Das haben wir verschlafen.
Wie attraktiv ist denn aus Ihrer Sicht Deutschland noch als Standort für „Greentech“? Man kennt ja die Probleme: Bürokratie, Energiekosten, mangelnde Attraktivität für ausländische Fachkräfte… und wenn man sich - wie Tesla - dann doch traut zu investieren, muss man sich auch noch von Klimaaktivisten beschimpfen lassen.
Diess: Ja, da wird sich Elon (Tesla-Chef Elon Musk, d. Red.) wahrscheinlich auch schon an den Kopf gefasst haben (lacht). Aber ich halte Deutschland nach wie vor für einen sehr attraktiven Standort. Wir waren ja nie die Kostengünstigsten, wir haben immer hohe Energiekosten gehabt, wir waren immer abhängig von Rohstoffen aus dem Ausland. Unser größtes Problem ist, glaube ich, eher die Demografie. Wir werden einfach weniger. Aber wir haben eine tolle Ausbildung, hervorragende Universitäten, und mittlerweile auch eine tolle Startup-Kultur in Deutschland. Die junge Generation hat auch Lust zu arbeiten und will die Welt verändern. Da kann man schon was draus machen.
Anfang des Jahres sind sie in den Verwaltungsrat des Ladespezialisten Mobility House eingestiegen – ein Coup für das einer breiteren Öffentlichkeit eher unbekannte Unternehmen. Mobility House arbeitet unter anderem am sogenannten „Bidirektionalen Laden“, also dass die Batterien privater E-Autos ihren Strom auch ins Netz einspeisen können. Wieso halten Sie diese Technologie für so wichtig?
Diess: Ich halte das wirklich für eine Zauberformel. Nicht nur für den E-Autofahrer, der auf einmal nichts zahlen muss fürs Fahren, weil er mit seiner Batterie Geld verdienen kann: Er lädt sein Auto auf, wenn der Strom günstig ist, und gibt ihn wieder ab, wenn viel Nachfrage herrscht und der Strom teuer ist. Hinzu kommt die Tatsache, dass wir dadurch noch viel mehr Erneuerbare ins Netz bekommen und wir weniger Netzausbau machen müssen. Deshalb engagiere ich mich so sehr dafür, dass das funktionieren wird.
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Mobility House nennt diese Vision „Zero Emissionen, Zero Kosten“. Haben Sie Verständnis dafür, wenn diese Vision auf Skepsis trifft? Sie sprechen ja selbst von einer „Zauberformel“.
Diess: Ja natürlich. Das ist absolut berechtigt. Der Gründer Thomas Raffeiner verkündet diese Vision seit 15 Jahren und es funktioniert immer noch nicht. Aber jetzt ist die Zeit reif: Die ersten Elektroauto-Modelle beherrschen das bidirektionale Laden schon, viele Hersteller arbeiten dran. Die neuen VWs können das mittlerweile fast alle. Es ist einfach ein komplexes Thema: Sie brauchen eine spezielle Wallbox dafür, sie brauchen die Software, sie brauchen einen Energievertrag, sie brauchen einen dynamischen Stromtarif. Und dann gibt es noch gewisse bürokratische Hürden. Aber das wird funktionieren.
Wann?
Diess: Jetzt gerade kommen die ersten Modelle auf den Markt und jetzt geht es darum, die Verbraucher zu überzeugen. Ich glaube, es könnte 2026 dann starkes Wachstum geben und 2027 einen weltweiten Boom.
Herr Diess, zum Schluss noch zu etwas ganz anderem: In Nordspanien betreiben Sie mittlerweile ein ökologisches Hotel mit Landwirtschaft und Schnapsbrennerei. Was haben Sie aus diesem Ausflug in die Landwirtschaft gelernt?
Diess: Das klingt nach ein bisschen mehr, als es letztendlich ist (lacht). Ich finde es durchaus faszinierend, den Klimawandel in all seinen Aspekten zu verstehen, und die Landwirtschaft spielt da natürlich eine große Rolle. Aber das Hotel ist verpachtet, ich habe es nur gebaut. Und die Landwirtschaft macht eine Landwirtin für mich, die baut die Birnen an. Die Birnen pflücke ich dann gemeinsam mit ihr und in Österreich wird daraus anschließend Schnaps gemacht.
Moment, Sie pflücken die Birnen selbst?
Diess: Ja, da bin ich immer dabei. Das ist harte Arbeit, vier Tage lang. Wir brauchen vier, fünf Leute, um die siebeneinhalb Tonnen Birnen zu pflücken. Aber da bin ich gern selbst dabei, weil das ist neben der Pflege der Birnbäume qualitätsbestimmend. Es dürfen nur erstklassige Birnen in der richtigen Reife sein, die müssen alle gepflückt werden, sie dürfen kein Fallobst sein.
Da schauen Sie lieber selber noch drauf.
Diess: Da schaue ich selber drauf.
Haben Sie auch schon einen E-Traktor bestellt?
Diess: Ich wollte einen bestellen, aber es gibt noch keinen vernünftigen. Jetzt befasse ich mich selbst mit dem Thema. Lassen Sie sich überraschen.