Merz droht, Putin schweigt: Fünf Szenarien für den großen Türkei-Showdown

Die Zeichen stehen auf Gespräch – zumindest aus ukrainischer Sicht. Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte an, am Donnerstag in Istanbul auf Kremlchef Wladimir Putin zu warten. "Ich werde am Donnerstag auf Putin in der Türkei warten, persönlich", schrieb er auf X. 

Ein Treffen wäre ein Novum seit Beginn des russischen Angriffskriegs vor über drei Jahren. Doch dass es tatsächlich dazu kommt, wird immer unwahrscheinlicher. Der Kreml hat die von den USA und europäischen Verbündeten geforderte sofortige Waffenruhe am Montag als "inakzeptabel" zurückgewiesen

Neues Merz-Ultimatum an Putin

Um dennoch die Chance auf Gespräche am Donnerstag zu erhalten, hat Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) daraufhin sein ursprünglich für Montag gesetztes Ultimatum verschoben: Sollte es "in dieser Woche" nicht zu einem Waffenstillstand kommen, dann werde es "eine deutliche Verschärfung der Sanktionen" im Energiesektor und Finanzmarkt geben.

Vor diesem Hintergrund bewerten Experten die Lage mit Skepsis – und skizzieren fünf denkbare Szenarien, wie Putin auf den neuen Druck reagieren könnte: 

Szenario 1: Kein Treffen, keine Reaktion – Putin demonstriert Stärke

Alexander Libman, Russland-Experte und Putin-Kenner von der Freien Universität Berlin, hält es für wahrscheinlich, dass sich an Putins Verhalten bis Donnerstag nichts ändern wird. Eine Waffenruhe sei bis dahin nicht zu erwarten – auch nicht als taktisches Zugeständnis. Außerdem: "Innen- und außenpolitisch erwarte ich keine großen Änderungen im Agieren Putins."

Vielmehr werde Putin penibel darauf bedacht sein, zu zeigen, "dass er sich dem westlichen Druck nicht beugt und nicht einfach das macht, was der Westen von ihm verlangt", so Libman zu FOCUS online. 

Auch ein persönliches Erscheinen in Istanbul hält Libman für unwahrscheinlich: "Gerade deswegen, weil es für ihn wichtig ist, zu zeigen, dass er sich dem Druck nicht beugt."

Auf diesem Foto telefonieren Keir Starmer (l-r), Premierminister des Vereinigten Königreichs, Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, der französische Präsident Emmanuel Macron, Donald Tusk, Ministerpräsident von Polen, und Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) über ein Smartphone (auf dem Tisch) mit US-Präsident Donald Trump.
Auf diesem Foto telefonieren Keir Starmer (l-r), Premierminister des Vereinigten Königreichs, Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, der französische Präsident Emmanuel Macron, Donald Tusk, Ministerpräsident von Polen, und Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) über ein Smartphone (auf dem Tisch) mit US-Präsident Donald Trump. Ukrainisches Präsidentenbüro/dpa

Szenario 2: Stellvertreter-Diplomatie – Putin schafft Symbolik und bleibt auf Distanz

Ein wahrscheinlicherer Schritt wäre, dass Moskau einen Unterhändler schickt, um gesichtswahrend Präsenz zu zeigen, ohne echte Zugeständnisse zu machen. Der Schweizer Militärexperte Albert Stahel sieht dies als naheliegend, da "ein direktes Treffen aufgrund der Machtverhältnisse im Kreml kaum stattfinden dürfte".

In diesem Fall bliebe es bei Symbolik – ohne konkrete Ergebnisse. Und "Putin dürfte nach wie vor das Ziel verfolgen, die Ukraine zu zerstören und einzunehmen", so Stahel zu FOCUS online.

Szenario 3: Spaltungsmanöver statt Lösung – Putin verfolgt altbekannte Taktik 

Putin könnte das Treffen taktisch nutzen, um den Eindruck von Verhandlungsbereitschaft zu erzeugen – ohne tatsächlich zu handeln. Das Ziel: den Westen weiter spalten. Denn bereits mit seinem Angebot, mit der Ukraine zu verhandeln, aber mit keinem Wort eine Waffenruhe zu erwähnen, hat der Kreml-Chef gezeigt, welche Strategie er verfolgt.

"Putins Manöver zielt darauf ab, Zeit zu gewinnen und einen Keil zwischen Trump und die europäischen Staatschefs zu treiben", analysiert Stahel. Auch Militärexperte Carlo Masala kommt zu diesem Schluss und warnt vor dieser Taktik: "Der Vorschlag direkter Verhandlungen, ohne auf den Waffenstillstand einzugehen, soll Sanktionen verhindern und Spaltung säen." 

Eine Scheinverhandlung in der Türkei, etwa durch Unterhändler Putins, während auf dem Schlachtfeld weiter eskaliert wird – das sei "die alte Brotkrumentaktik", so Masala auf X.

Stahel sieht bereits erste Erfolge dieser Kreml-Taktik: "Auf Druck von Trump hat sich Selenskyj bereit erklärt, Putin in Istanbul zu treffen" - auch ohne Waffenruhe, wie das US-Nachrichtenportals "Axios" am Montag berichtet. 

Szenario 4: Begrenzt taktisches Einlenken – Trump erhöht Druck auf Putin

Sollte aus Washington massiver Druck kommen – etwa durch Donald Trump –, könnte Putin kurzfristig ein begrenztes Zugeständnis machen. Libman hält das zumindest für denkbar und betont: "Putin interessiert nur die Position der USA – Europa spielt für ihn keine Rolle." 

Auch die EU könnte theoretisch noch reagieren und ein neues Sanktionspaket beschließen. Doch indem Kanzler Merz das verstrichene Putin-Ultimatum ohne Folgen beließ, ist das wenig wahrscheinlich. Klar ist aber auch, dass das kein zweites Mal passieren wird. Sollte Putin nicht auf das neue Ultimatum reagieren, wird Merz handeln müssen.

Welche Rolle das im Konflikt spielen wird, ist aber offen. "Ohne Unterstützung der USA wird es kaum politisch, und sehr wahrscheinlich auch kaum wirtschaftlich, einen Einfluss auf Russland ausüben", sagt der Experte.

Für das Treffen am Donnerstag heißt das: Je stärker Trump Druck ausübt, desto eher könnte Putin sich bewegen. Doch die Zeit dafür wird immer knapper.

Szenario 5: Das unwahrscheinlichste Szenario – Putin erscheint persönlich

Ein direktes Treffen mit Selenskyj wäre ein dramatischer Schritt – und derzeit kaum vorstellbar. Dennoch: Libman kann es "nicht komplett ausschließen, dass er es doch tut". Vieles hänge von den kaum transparenten Dynamiken zwischen dem Kreml und der Trump-Administration ab, sagt Libman. 

Am Ende würde ein persönliches Erscheinen Putins Kalkül, sich unangreifbar zu inszenieren, untergraben – und ist daher kaum wahrscheinlich.

Die Folgen: Was passiert, wenn Putin dem Druck nicht nachgibt?

Sollte Putin das Ultimatum des Westens ignorieren – und danach sieht es derzeit nach der Erklärung aus dem Kreml aus - und bis Donnerstag weder echte Verhandlungsbereitschaft zeigen noch einen Waffenstillstand erklären, droht eine neue Eskalationsstufe. Die von Kanzler Merz und Partnern angekündigten Sanktionen würden dann wohl wirklich eingesetzt werden – auch die militärische Unterstützung für die Ukraine dürfte zunehmen. Möglich wäre sogar, dass Deutschland dann Taurus-Marschflugkörper liefert.

Kommt es dazu, dass Putin dem Westen weiter die kalte Schulter zeigt, dann stellen sich neue Fragen: Wie lange macht Donald Trump und damit die USA das Kreml-Spielchen noch mit? Und welche Reaktion folgt daraus? Auch Masala wertet diese Frage eine entscheidende Bedeutung zu: "Schert Trump jetzt aus der vereinbarten US-Europa-Linie aus oder bleibt er dabei?" 

Stahel glaubt, Trump könnte militärisch in Form von Waffenlieferungen reagieren, sollte Putin weiter Spielchen spielen: "Am Ende wird es beim Ultimatum der Westeuropäer bleiben: sofortiger Waffenstillstand, auf den aber Putin kaum eingehen wird. In diesem Fall wird er mit weiteren Waffenlieferungen seitens Trump rechnen müssen. Dieser müsste eigentlich langsam einsehen, dass er Putin nur als Clown dient."