Migranten auf Griechen-Insel: Experte warnt vor “großem Problem der Zukunft”

Die griechische Küstenwache meldet zunehmend Rettungseinsätze südlich von Kreta. Allein am vergangenen Wochenende wurden über 750 Migranten und Migrantinnen bei mehreren Operationen aus dem Mittelmeer gerettet. Die größte Rettungsaktion fand südöstlich des Eilands Gavdos statt, bei der 430 Menschen von einem überladenen Fischerboot in Sicherheit gebracht wurden.

Damit steigt die Zahl der Geflüchteten, die in den vergangenen Tagen und Wochen über das südliche Mittelmeer nach Griechenland gekommen ist, weiter an. Bis Ende Juni waren es nach offiziellen Angaben der Küstenwache bereits über 130 Einsätze mit mehr als 7.000 Migranten bei Kreta und Gavdos – ein Anstieg um 258 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Die Zahlen des gesamten Jahres 2024 sind schon überschritten.

Auf Kreta wachsen Sorgen: Griechenland und die neue Fluchtroute

Laut der EU-Grenzschutzagentur Frontex ist die Zahl der Gesamtankünfte in der EU zwar leicht rückläufig. Doch das zentrale Mittelmeer bleibt auch 2025 die meistbefahrene Route. Die Mehrheit der Geflüchteten kam zwischen Januar und Mai aus Bangladesch, Eritrea und Ägypten und reiste über das Libysche Meer in die EU. Das geht aus einem Mitte Juni veröffentlichten Bericht der Frontex hervor.

Auf Kreta wachsen die Sorgen. Während sich Hotels und Strände auf der beliebtesten griechischen Insel der Deutschen füllen, sprach die stellvertretende Regionalgouverneurin der Präfektur Rethymno, Maria Lioni, vor Kurzem bei einem Krisentreffen von einer „nie dagewesenen Welle von Migrationsströmen“. Auf der Insel, die jährlich Millionen Touristen beherbergt, gibt es keine offizielle Flüchtlingsunterkunft. Deswegen mussten mehrere Hundert Migranten neulich in einem Stadion untergebracht werden.

Der Bürgermeister von Kretas Hauptstadt Heraklion, Alexis Kalokairinos, kritisierte die mangelnde Unterstützung durch das Migrationsministerium. Er forderte einen klaren Plan zur Bewältigung der Situation – vor allem in Bezug auf Unterbringung, Verpflegung und Transport. „Es ist nicht hinnehmbar, dass Menschen unter Bedingungen leben, die nicht nur weit von einem menschenwürdigen Leben entfernt sind, sondern auch viele andere Risiken mit sich bringen.”

Ist eine neue Flüchtlingskrise absehbar?

An das Jahr 2015 erinnert die aktuelle Lage noch nicht. Damals gelangten über eine Million Geflüchtete nach Europa – viele davon über Griechenland. Es kam zu chaotischen Szenen auf der Balkanroute, überfüllten Lagern und tödlichen Bootsunglücken. Als die Balkanländer ihre Grenzen schlossen, strandeten Zehntausende in Griechenland.

Könnte sich dieses Szenario nun auf Kreta wiederholen? Daniella Maria Marouda, außerordentliche Professorin für Völkerrecht an der Panteion-Universität in Athen, Inhaberin des Jean-Monnet-Lehrstuhls für EU-Solidarität und Präsidentin der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) des Europarats, glaubt nicht daran. Es handele sich lediglich um eine Verlagerung der Migrationsströme, „die regelmäßig im Mittelmeerraum stattfindet”, sagte sie gegenüber FOCUS online.

Schleuser steuern statt Italien Kreta an

Marouda verweist auf das Jahr 2023, als Italien laut Angaben der Flüchtlingsorganisation UNHCR fast 160.000 Ankünfte per See zählte. Das entspricht einem Anstieg von rund 50 Prozent zum Vorjahr. 2024 fielen die Zahlen dann deutlich auf knapp 67.000. Die meisten Geflüchteten kamen dabei – wie auch derzeit – aus Libyen nach Italien.

Nach einem Abkommen zwischen Italiens Premierministerin Giorgia Meloni und der libyschen Regierung im Sommer 2023 verlagerte sich die Route zunehmend von der Hafenstadt Tobruk nach Griechenland. Marouda sieht eine Verbindung des starken Anstiegs der aktuellen Flüchtlingszahlen auf Kreta mit dem Rückgang der Migrationsbewegungen nach Italien. „Dies ist ein häufiges Phänomen. Die Ströme ändern sich, die Schleuser legen neue Routen fest.”

Experte warnt: „Vorbote für ein großes Problem der Zukunft”

Ioannis N. Grigoriadis, Politikwissenschaftler und außerordentlicher Professor an der Bilkent-Universität in Ankara sowie leitender Forscher am Hellenischen Institut für Europäische und Außenpolitik, Eliamep, in Athen beurteilt die Entwicklung im Gespräch mit "FOCUS online" ernster: “Was auf Kreta geschieht, ist ein Vorbote für ein großes Problem der Zukunft.” Besonders südlich der Sahara wachse die Bevölkerung stark, während viele Menschen wegen Armut, Konflikten und fehlender Perspektiven auswandern würden.

In Libyen hielten sich der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge allein von Januar bis Februar 2025 fast 860.000 Migrant:innen auf. Seit Ende 2023 steigt diese Zahl kontinuierlich. Elf Prozent von ihnen gaben an, weiterreisen zu wollen – die meisten nach Europa. Demnach könnten womöglich noch viel mehr Menschen die gefährliche Route über das Libysche Meer Richtung Griechenland wagen.

Athen setzt auf Abschreckung

Die griechische Regierung reagiert mit Härte: Premierminister Kyriakos Mitsotakis entsandte neulich Marineschiffe vor die libyschen Hoheitsgewässer, um Schleuserboote abzuschrecken und die libyschen Behörden über Flüchtlingsboote zu informieren. „Die Schleuser werden nicht bestimmen, wer in unser Land einreisen darf”, erklärte der konservative Politiker.

Makis Voridis, der Ende Juni wegen eines mutmaßlichen Subventionsskandals als Migrationsminister zurücktrat, nannte die Situation eine „neue operationale Herausforderung”. Er drohte sogar mit einer Aussetzung des Asylverfahrens, sollte sich die Lage weiter verschärfen. Außerdem sollen Abschiebungen beschleunigt und illegale Einreisen strenger geahndet werden. Sein Nachfolger, Thanos Plevris, kündigte an, diese „harte, aber faire“ Linie fortzusetzen.

„Jeder, der in das Land kommt und nicht asylberechtigt ist, hat zwei Möglichkeiten: Rückkehr oder Gefängnis”, sagte Plevris. Zugleich befürwortete der Politiker der konservativen Nea Dimokratia eine legale Migration und betonte, Asylberechtigten mit Arbeitswillen Chancen bieten zu wollen.

Griechenland orientiert sich mit seinem deutlich härteren Kurs stärker an der neuen EU-Migrationspolitik. Der im Juni 2024 in Kraft getretene Migrations- und Asylpakt setzt auf strengere Grenzkontrollen und schnellere Verfahren mit festen Fristen. Gleichzeitig soll der Grundrechtsschutz für Asylsuchende gestärkt werden. Ab 2026 sollen die Regelungen verbindlich gelten.

EU drängt auf Kooperation mit Libyen

Vor dem Beginn des jüngsten EU-Gipfels in Brüssel forderte der griechische Premierminister Mitsotakis Libyen zur Kooperation auf, um Migranten an der Ausreise zu hindern oder zurückzuweisen. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach sich in einem Schreiben an die Staats- und Regierungschefs für eine verstärkte logistische und finanzielle Unterstützung Libyens aus.

Doch belasten geopolitische Spannungen die Beziehungen zwischen Griechenland und Libyen – insbesondere wegen Differenzen über die Ausschließlichen Wirtschaftszonen im Mittelmeer. „Griechenland versucht, ein Abkommen mit Libyen zu erreichen, das aufgrund der angespannten Beziehungen nicht bilateral sein kann”, erklärt Marouda.

Aus diesem Grund traf der EU-Kommissar für Inneres und Migration, Magnus Brunner Mitsotakis vergangene Woche Dienstag in Athen. Er plädierte für eine Regelung für Rückführungen und für die eines sicheren Drittlandes. Brunner reiste am Dienstag gemeinsam mit den Migrationsministern aus Griechenland, Italien und Malta nach Libyen, um die Zusammenarbeit mit den örtlichen Behörden zu verstärken. Das Treffen mit der international anerkannten Regierung in Tripolis verlief planmäßig, der militärische Machthaber Chalifa Haftar im Osten des gespaltenen Landes verwehrte der EU-Delegation hingegen die Einreise

Der Politikwissenschaftler Grigoriadis glaubt allerdings nicht an eine nachhaltige Lösung in der Flüchtlingsfrage: „Libyen ist kein stabiler Staat; es ist geografisch und institutionell zersplittert. Selbst wenn ein Abkommen zustande kommt, ist es zweifelhaft, ob es in der Praxis umgesetzt werden kann.”