Schafft Kempten die Energiewende?
Kempten – Nach hitzigen Debatten im Klimaschutzbeirat, im Bauausschuss und nach einer zweistündigen kontroversen Diskussion im Stadtrat steht die Entscheidung (mit 22 von 37 Stimmen) fest: In Kempten dürfen außer den privilegierten Flächen 1,5 Prozent der Gesamtgemarkungsfläche für Freiflächen-Photovoltaik-Anlagen verwendet werden, und zwar nach den Vorgaben einer „Leitlinie“.
Diese schließt Naturschutzgebiete, Biotope, Wasserschutzgebiete, ökologische Ausgleichsflächen, Überschwemmungsgebiete, Flüsse, Seen, Waldflächen, ausgewiesene Wohnbauflächen aus und hält Pufferzonen entlang großer Verkehrsachsen, vorbelastete Flächen und solche im Umfeld von technischen Einrichtungen für besonders geeignet.
Im Stadtrat wurde von allen Seiten immer wieder betont, dass man am Anfang eines dynamischen Prozesses die wichtigsten Grundsätze festhalten wolle, die rechtlich nicht bindend seien und vom Stadtrat zu jeder Zeit geändert werden könnten. Außerdem müsse das Gremium sowieso in jedem Einzelfall eine eigene Entscheidung treffen. Als neutraler Beobachter fragt man sich, wieso die Stimmung trotzdem so aufgeheizt war.
Er finde die Diskussion „körperlich schmerzhaft“, sagte Thomas Hartmann (Grüne). Einerseits wolle man den Ausbau der regenerativen Energien, andererseits gehe es um die Existenz der Landwirte, die man unbedingt schützen müsse. Ein Spagat zwischen den beiden Zielsetzungen sei fast nicht zu schaffen, deshalb brauche man eine Regulierung.
Potenzial von 274 Hektar für PV-Anlagen in Kempten
Wie Baureferent Tim Koemstedt erläuterte, hat der Stadtrat diese Notwendigkeit bereits 2022 erkannt, als er nach dem Beschließen des „Klimaplans 2035“ die Verwaltung beauftragte, einen Leitfaden vorzubereiten. Man war kurz davor, sich auf einen Vorschlag von drei Prozent der städtischen Fläche zu einigen, als im Januar 2023 die Bundesregierung das Baugesetzbuch änderte, indem sie Flächen entlang von Autobahnen und zweigleisigen Bahnstrecken in einer Breite von 200 Metern für „privilegiert“ erklärte.
Die Privilegierung bedeutet: Hier reicht ein Bauantrag aus, um Baurecht zu schaffen. In Kempten gilt das für 122 Hektar unbebaute, landwirtschaftlich genutzte Fläche, die etwa zwei Prozent des Gesamtterritoriums entspricht. Eine weitere Gesetzesänderung im Juli vergangenen Jahres sicherte Agri-PV-Anlagen in landwirtschaftlichen Betrieben unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls eine Privilegierung zu. Diese könnten in Kempten 61 landwirtschaftliche Betriebe erfüllen, was ein Flächenpotential von 152 Hektar beziehungsweise 2,5 Prozent der Gesamtfläche bedeutet. Durch diese gesetzlichen Änderungen habe sich die Ausgangslage für die Erstellung des Leitfadens grundsätzlich geändert, meinte Koemstedt.
Bürgermeister will schrittweise vorgehen
Der inhaltlichen Diskussion ging eine von Dr. Dominik Spitzer (FDP) initiierte halbstündige Debatte über die richtige Reihenfolge der drei Beschlussvorschläge voraus. Alles drehte sich um die Frage, welcher der weitestgehende sei. Vor allem Thomas Kreuzer (CSU) und Alexander Hold (FW) mobilisierten juristische Spitzfindigkeiten, wobei sie auch nicht an gegenseitigen Seitenhieben wegen ihrer Teilnahme an den Bauernprotesten sparten.
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Der Oberbürgermeister brachte seine Aufregung über das „Riesenhickhack“ zum Ausdruck und setzte sich mit seiner ursprünglichen Vorgehensweise durch. Mit seiner Argumentation für den Vorschlag, außer den privilegierten Flächen momentan keine weiteren zuzulassen, konnte er jedoch nur 14 der anwesenden 37 Stadträte überzeugen. Er schlug vor, schrittweise vorzugehen und zunächst die Entwicklungen der kommenden zwei bis drei Jahren abzuwarten. Er berichtete auch darüber, dass die Ortsgruppenmänner der landwirtschaftlichen Vereine am Tag vor der Sitzung ihm gegenüber schriftlich die gleiche Forderung bekräftigt hätten. Unterstützung bekam er von Thomas Kreuzer, der die monokausale Vorgehensweise bei der Energiewende kritisierte und darauf hinwies, dass die Zielsetzungen, die Lebensmittelversorgung zu gewährleisten und das typische Allgäuer Landschaftsbild in der Stadt zu bewahren, genauso ihre Berechtigung hätten.
Die hiesige Landwirtschaft schützen
Gerti Epple (Grüne) stellte verwundert fest, dass sie sich mit Kreuzers Meinung über die Parteigrenzen hinweg gut identifizieren könne. Eine „isolierte, eindimensionale Sichtweise“ helfe nicht weiter. Neben PV-Anlagen gebe es viele andere technische Möglichkeiten. Außerdem müssten auch die Bürger Verantwortung übernehmen und die Lösung nicht nur von der Stadt erwarten. Sie halte es für wichtig, die Landwirtschaft zu schützen: Man dürfe es nicht so weit kommen lassen, dass man auf Lebensmittel aus dem Ausland angewiesen sei. Theo Dodel-Hefele (Grüne) plädierte dafür, vor einer Ausweitung der Fläche erst zu prüfen, was man vor Ort leisten könne. Er rät dazu, regenerative Energiequellen zu vernetzen und dabei im regionalen Verband die Windenergie einzubeziehen.
PV-Anlagen als Investition in die Zukunft sehen
Der Antrag der Fraktionsgemeinschaft, für die PV-Fläche keine Obergrenze zu setzen, erhielt neun Stimmen. Das Status quo sei, dass die Stadt bei der Energieerzeugung fossile Brennstoffe brauche, sagte Spitzer. Angesicht des Klimawandels sollte man im erneuerbaren Bereich so viel Energie produzieren wie möglich, auch über das Erreichen der CO2-Neutralität hinaus. Eine Grenze einzuziehen sei hierbei falsch, vor allem gleich am Anfang eines lebendigen Prozesses. Photovoltaik-Anlagen dürfe man nicht für hässliche Bauwerke halten, sondern man sollte sie als eine Investition in die Zukunft wahrnehmen.
Der Stadtrat habe beschlossen, ab 2035 ausschließlich erneuerbare Energien zu verwenden, die zum größten Teil im Stadtgebiet erzeugt werden sollten, rief Franziska Maurer (Grüne) in Erinnerung. Eine Beschränkung bringe den Bauern nichts: Sie könnten außerhalb der privilegierten Gebiete an der Autobahn oder Bahnstrecke selbst entscheiden, wie sie vorgehen. Dominik Tartler (FfK) erinnerte daran, dass die elf Jahre bis 2035 sehr kurz seien. Für den Bau von PV-Anlagen gebe es die wenigsten Hürden, nichts anderes könne man jetzt in der notwendigen Größenordnung bauen.
Kompromisslösung
Der Antrag der Fraktionsgemeinschaft half sicherlich dabei, die 1,5-Prozent-Variante als Kompromiss wahrzunehmen. Diese Lösung helfe, den Druck von den privilegierten Flächen zu nehmen und signalisiere, dass die Stadt auch an Standorte denke, die nicht landwirtschaftlich genutzt würden, meinte Katharina Schrader (SPD). Die Entscheidung der Bundesregierung sei ein Fehler, weil diese stark in die Planungshoheit der Kommunen eingreife, behauptete Hold. Der Verzicht auf die zusätzlichen Flächen würde dem Stadtrat die letzte Steuerungsmöglichkeit nehmen.
Erwin Hagenmaier (CSU) fand diesen Gedankengang allerdings „abstrus und vollkommen abwegig“. Thomas Hartmann erinnerte daran, wie der Aufschwung im Bereich regenerativer Energien vor einigen Jahren von der Politik „abgewürgt“ worden sei. Die Beschlüsse der neuen Regierung solle man als „Notwehrmaßnahme“ gegen diesen Trend betrachten. Man habe die Zukunftsfähigkeit wieder herstellen müssen. Die Einschränkung auf die privilegierten Flächen würde wieder das gleiche Signal geben: „Wir verhindern, was geht.“
Die Sorgen der Landwirte
Man kann die Frage stellen: Warum bedeutet die Zulassung von PV-Anlagen eine Existenzbedrohung für die Landwirte? Sie können doch selbst entscheiden, ob sie ihre Flächen weiterhin landwirtschaftlich nutzen. Koemstedt erläuterte, dass viele landwirtschaftliche Betriebe ihre Flächen pachten, teilweise bis zu zwei Drittel dieser sind nicht in ihrem eigenen Besitz. Was sie bedrohen könnte, ist die Auflösung der Pachtverträge zugunsten von rentableren Solarparks. Hagenmaier nannte einige Betriebe, die durch die Privilegierung besonders betroffen sein könnten, unter ihnen die der Familie des Stadtrats Tobias Hiepp, der sich dazu allerdings nicht äußerte, sondern etwas zögerlich nach der möglichen Befangenheit seiner Stadtratskollegen fragte, die im Aufsichtsrat des AÜW sitzen, das wiederum an potenziellen PV-Flächen im Stadtgebiet interessiert sei.
Einerseits handle es sich hier um eine Leitlinie und nicht um eine konkrete Entscheidung, andererseits säßen die Stadträte im Aufsichtsrat, um dort städtische Interessen zu vertreten, antwortete Referatsleiter Wolfgang Klaus. Der zweite Landwirt im Gremium, Dodel-Hefele, schilderte die Probleme landwirtschaftlicher Betriebe: Etwa die Hälfte der Landwirte hätten keine Nachfolge und setzten deswegen lieber auf PV-Anlagen. Der Klimawandel bedeute für die Landwirtschaft eine große Herausforderung, auch im Allgäu. Die Landwirte investierten in die Zukunft, um den negativen Folgen entgegenzuwirken, im Gegenzug bräuchten sie aber die Sicherheit, dass ihre Betriebsstrukturen erhalten bleiben.