Nach Verlust der Munitionsdepots: Putins Truppen gehen die Granaten für Ukraine-Krieg aus

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Befohlene Inneffizienz: Russland scheint seine Fehler zu wiederholen – allerdings mit verdoppelter Anstrengung. Militärblogger kritisiert den Kreml.

Moskau – „Ich werde sie nicht namentlich nennen, weil es zu viele sind“, schreibt „Dreizehnter“, wie die Kyiv Post berichtet. Hinter dem Pseudonym steckt ein kremlfreundlicher Militärblogger, der jetzt seinen Kriegsherrn Wladimir Putin ins Visier nimmt: Der Armee ginge die Munition aus, schreibt der Soldat Russlands auf seinem Social Media-Kanal Telescope. Demnach hätte sich der Spieß umgedreht, wie die Post berichtet: Jetzt klagen russische Truppen öffentlich über Granatenmangel.

Der Grund läge in den wiederholten Angriffen der Ukraine auf Munitionsdepots Russlands. Laut Jegor Guzenko, wie der Blogger bürgerlich heißt, sei das Phänomen fehlender Artilleriegranaten die Folge der ukrainischen Drohnenangriffe in Toropets in der Region Twer und Tichorezk in der Region Krasnodar Mitte September. Die Angriffe würden weiterhin andauern, behauptet er. Das hätte zur Folge, dass Artillerie-Munition rationiert würde – auch zu Lasten der Truppen, die an vorderster Front stünden.

Verluste an Nachschub: Ukraine hat mehrere Munitionsdepots zerstört

Die Ukraine habe laut eigenen Angaben im Süden und Westen Russlands zwei Munitionsdepots zerstört. Das vernichtete Depot nahe der Stadt Tichorezk sei eines der „drei größten Munitionslager“ Moskaus, teilte die ukrainische Armee mit. Das Feuer durch herabfallende Trümmer hätte Explosivstoffe entzündet und habe sich dann auch auf umliegende Siedlungen ausgebreitet, weshalb daraus mehr als 1.000 Bewohner hätten evakuiert werden müssen, wie der Gouverneur der russischen Region Krasnodar, Wenjamin Kondratjew, gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters erklärte. Laut der ukrainischen Armee wurde in dem Dorf Oktjabrski in der westlichen Region Twer ein weiteres Munitionsdepot getroffen. Auch dort sei ein Feuer ausgebrochen. 

„Russische Strategen werden ihre Kernkompetenzen wie die befehlsgesteuerte Massenproduktion verdoppeln, was zu entsprechenden Einbußen bei Effizienz und Innovation führen wird.“

Guzenko klagt allerdings nicht nur über den Mangel an Geschossen, sondern auch an der unveränderten Befehlslage weiterhin anzugreifen – und notfalls auch ohne Artillerieunterstützung. Der Blogger spricht daneben von seinem Verdacht, dass im System Putin ein Fehler stecke, wie ihn die Kiew Post zitiert: „Aber selbst wenn das passiert ist, wenn einige der Lagerhäuser zerstört wurden, heißt das nicht, dass unsere Fabriken plötzlich stillgelegt wurden. Die Fabriken arbeiten jeden Tag – Tag und Nacht. Diese Munition geht irgendwo hin.“ Der Militärblogger fragt außerdem: „Wohin geht diese Munition? Warum gibt es so wenig davon für die Truppen?“

Neben den scheinbar unerschöpflichen Ressourcen bestimmt vor allem eine zentralisierte Verwaltung und die Priorisierung der Rüstung die anderen wirtschaftlichen Sektoren. „Russland produziert Artilleriegeschosse etwa dreimal schneller als die westlichen Verbündeten der Ukraine und zu etwa einem Viertel der Kosten“, hat der britische Sender Sky News im Mai behauptet und bezieht sich auf Zahlen der in Boston ansässigen Unternehmensberatung Bain & Company. Insofern dürfte Russland keinen Mangel spüren.

Russische Soldaten knien neben einer Kiste mit 122-Millimeter-Artilleriegranaten
Bis zum letzten Schuss: Russlands geringe Reserven an Munition scheinen jetzt auch unter den Soldaten für Missfallen zu sorgen. Analysten beobachten, dass Putins Artillerie lediglich blindwütig in die Gegend feuert, ohne Effizienz zu gewinnen. © IMAGO/Alexei Konovalov/TASS

Offensive am laufenden Band: Russland produziert etwa drei Millionen Artilleriegranaten pro Jahr

Der US-Sender CNN hatte im März berichtet, dass Russland etwa drei Millionen Artilleriegranaten pro Jahr produzieren könne, also etwa 250.000 Stück pro Monat. Diese Zahlen stammen aus Schätzungen von Nato-Geheimdiensten. Wie Renaud Foucart im Magazin Conversation veröffentlicht hat, hätten zwar Russlands öffentliche Ausgaben ein Rekord-Niveau erreicht, allerdings verschlinge der Krieg rund 40 Prozent des Staatshaushalts. Im vergangenen Jahr hätten demnach die gesamten Militärausgaben zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausgemacht.

„Soldatensold, Munition, Panzer, Flugzeuge und Entschädigungen für gefallene und verwundete Soldaten tragen allesamt zum BIP bei. Vereinfacht ausgedrückt ist der Krieg gegen die Ukraine heute der Hauptmotor des russischen Wirtschaftswachstums“, schreibt Foucart. Jegor Guzenko sieht das differenzierter. Ihm zufolge hätte Putin den Krieg bereits 2014 beginnen müssen, um ihn schon längst beendet haben zu können. Seinen Präsidenten hält Guzenko für einen Feigling und im Kreml viele für Verräter – weil der Krieg eben auch konsequenter hätte geführt werden müssen, wie Guzenko schreibt.

Putins Herausforderung: Massenproduktion hat einen höheren Wert als Präzision

Auch Paul Schwennesen hält die Produktion an Geschossen für mehr als ausreichend gegen die Ukraine. Wenn diese Munition denn effizient eingesetzt würde – der Militärhistoriker des in Liechtenstein ansässigen Thinktank Geopolitical Intelligence Services AG (GIS) erinnert daran, dass die russische Militärführung immer noch eine sowjetisch indoktrinierte sei – wie er von einem ukrainischen Frontkämpfer erfahren haben will.

Demnach seien die aktuell eingesetzten Geschütze Relikte aus den 1960er- und 70er-Jahren – so die 152-mm-Kanonenhaubitze 2A36 Giazint-B, die 122-mm-Panzerhaubitze 2S1 Gwosdika, die 152,4-mm-Panzerhaubite Akatsiya oder die 2S7 Pion-Panzerhaubitze. In Entwicklung und Produktion sei Wert gelegt worden auf Haltbarkeit und Kosten, sagt Ilya Varzhanskyi; ihm zufolge galt die Möglichkeit der Massenproduktion als höherer Wert im Gegensatz zu hoher Präzision des Artilleriefeuers.

Kritik ist angebracht: Russlands Produktion führt kaum zu Steigerung der Frontkapazität

„Erst in den 1980er-Jahren berechneten Analysten des Generalstabs der sowjetischen Streitkräfte, dass ein hochpräzises Artilleriesystem Dutzende traditioneller Systeme ersetzen könnte, was der westlichen Technologie für die meisten modernen Konflikte einen deutlich größeren Vorteil verschaffen würde“, erläutert die Quelle des GIS-Analysten. Allerdings sind die Vergleiche der Feuerkraft mit aller gebotenen Vorsicht zu genießen. Möglicherweise schießen die westlichen Granaten der Ukraine präziser – beispielsweise die Excalibur-Geschosse der schwedischen Archer-Haubitze.

Allerdings scheint den Russen mit ihrer Elektronischen Kriegführung in großem Umfang gelungen zu sein, deren Geschoss-Navigation zu stören, war ihre Präzision zunichtemacht. Und auch die schiere Masse der russischen Produktion scheint dem Analysten Schwennesen kein Hinweis auf einen effektiven Vorteil zu sein: „Es ist unwahrscheinlich, dass die russische Feuerkraft tatsächlich verdoppelt oder verdreifacht wird. Während der russische Schwerpunkt auf eine verstärkte Massenproduktion von Artillerie die ukrainischen Verteidigungs- und Angriffsoperationen wahrscheinlich erheblich behindern wird, führt dies nicht unmittelbar zu einer entsprechenden Steigerung der Frontkapazität.“

Ukraine-Krieg mit blindwütigem Feuer– um leere Dörfer von der Landkarte zu tilgen

Schwennesen vermutet, Russland könne tatsächlich gezwungen sein, seine Produktion zu verdreifachen, um seinen Vorteil gegenüber einem vergleichsweise entschlosseneren und disziplinierteren Gegner aufrechtzuerhalten. Das hieße, beide Gegner seien gleichermaßen effektiv, ihre Artillerieführung sei aber gegensätzlich. Schwennesen zieht dazu wieder seine Quelle aus der ukrainischen Armee heran – laut Varzhanskyi fehle der russischen Armee sogar der Anreiz auf Distanzen zwischen zehn und 30 Kilometer präzise zu feuern.

Demzufolge würden russische Artilleristen auf Befehl bestimmte Sektoren unter Feuer nehmen, ohne dass bestimmte Ziele anvisiert oder bestimmte Aufträge ausgeführt würden. „Manchmal wird das Feuer präventiv‘ eingesetzt, manchmal als Strafmaßnahme, wie im Fall der Grenzdörfer in der Nordukraine. Manchmal geschieht es völlig sinnlos, zum Beispiel wenn sie völlig leere Dörfer ,von der Landkarte tilgen‘, sagt Varzhanskyi. Der Soldat legt damit nahe, dass die Artillerie auch einfach aufs Geratewohl feuere, um Aktivität in Führungsstäbe hinein melden zu können; was wiederum zu falschen oder geschönten Lageberichten führe.

Chance für Selenskyj: Befehlsgesteuerte Massenproduktion Russlands verhindert Innovationen

Schwennesen legt dem erhöhten Munitionsverbrauch insofern fragwürdige militärische Anreizstrukturen zugrunde und deshalb ein Missverhältnis zwischen abgefeuerten Salven und angegriffenen Zielen. Seiner Meinung nach solle heftiger Beschuss differenziert betrachtet werden. Laut CNN gehe die Nato davon aus, dass die russische Kriegsmaschinerie der der Nato uneinholbar voraus liege.

Einer hochrangigen Nato-Quelle zufolge betreibe Russland seine Artilleriefabriken „rund um die Uhr“ in wechselnden Zwölf-Stunden-Schichten, wie CNN schreibt. Geschätzte 3,5 Millionen Russen arbeiteten derzeit im Rüstungssektor, vor dem Krieg sollen das mindestens eine Million Menschen weniger gewesen sein. Wie unabhängige Medien bereits vor einem Jahr berichtet hatten, ist der personelle Aufschwung in Militär und Rüstungsproduktion aber auch Zwangsarbeit von Verurteilten geschuldet.

Militärhistoriker Schwennesen hält das Festhalten an überholten Doktrinen gleichermaßen für Russlands Kardinalfehler, wie für die Chance des Volks von Präsident Wolodymyr Selenskyj: „Russische Strategen werden ihre Kernkompetenzen wie die befehlsgesteuerte Massenproduktion verdoppeln, was zu entsprechenden Einbußen bei Effizienz und Innovation führen wird.“

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