Horror-Verluste: Russland und Ukraine schießen mit improvisierter Artillerie aufeinander
Ausgeschlachtete Schiffe und gefledderte Panzer: Beide Kriegsgegner beschießen sich mit allem, was ein funktionsfähiges Geschütz ergeben könnte.
Moskau – „So ist die Artillerie zurück als Königin der Schlachten. Eine Rolle, die sie in Europa seit den Feldzügen Napoleons innehatte, bis zum Ende des Kalten Krieges“, formuliert Björn Müller. Der Autor des deutschen Reservistenmagazins loyal beschrieb das Comeback des Langstrecken-Feuers in einem aktuellen Konflikt wie dem Ukraine-Krieg. Auf dem allerdings droht Wladimir Putin inzwischen das Feuer auszugehen. Neben der Reaktivierung von Haubitzen aus der Stalin-Ära scheint er jetzt aus Einzelteilen Geschütze zusammenbauen zu müssen, wie das Magazin Defense Express berichtet.
Danach sollen Schiffsgeschütze für den Landkrieg herhalten und Maschinenkanonen aus Schützenpanzern auf Lafetten montiert worden sein – Defense Express stützt sich auf Videos aus den Sozialen Netzwerken und merkt an, dass die Informationen noch geprüft werden müssten: Die Berichte legten nahe, dass die russische Invasionsarmee ein einzigartiges Hybrid-Artilleriesystem mit dem Chassis der uralten M-46-Schlepphaubitze und der Kanone des AK-130-Systems der Marine entwickelt habe, schreibt das Magazin und stützt sich auf Bilder, die eine Rohrmündung zeigen sowie eine Bedienungsmannschaft beim Laden und Feuern.
Putin in Zugzwang: Improvisation als Folge der Horror-Verluste
Ein vom ukrainischen Online-Magazin Vodohrai veröffentlichtes Video soll zeigen, wie ein solches Hybridsystem das Feuer auf ukrainische Stellungen eröffnet. In einem ähnlichen Fall will das Defense Express sicher sein, dass die russischen Besatzer die 72-Millimeter-Kanone vom Schützenpanzer BMP-1 auf Lafetten montiert haben, um eine Lücke für Mörser zu füllen – das dem Bericht zugrunde liegende Video auf X (vormals Twitter) zeigt aber lediglich zwei dieser improvisierten Geschütze.
„Ich habe bereits an der Front gekämpft. Ich hatte die Waffen bereits. Ich wusste bereits, wie effektiv und sicher sie sind und dass alles besser und bequemer sein kann. Ich kam auf die Idee, die Waffe auf den Lastwagen zu stellen. Wir haben sie gebracht, renoviert und installiert.“
Die Truppen Russlands werden von der Not getrieben sein – aktuell veröffentlicht das Magazin Newsweek Horror-Zahlen über die Verluste der Besatzungsarmee an Geschützen. „Das russische Verteidigungsministerium erklärte am Montag, es habe 12.535 ukrainische Feldartilleriesysteme und Mörser zerstört“, schreibt Newsweek unter dem Hinweis der fehlenden Überprüfung. Defense Express spricht deshalb vom Zwang zum „MacGyver-Prinzip“ – frei übersetzt: Nutzen, was zur Hand ist! Der Rückgriff bezieht sich auf eine US-amerikanische Action-Serie aus den 1980er-Jahren. Allerdings äußert Defense Express deutliche Zweifel an der Authentizität des Videos mit dem Schiffsgeschütz.
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Die im Video kurz auftauchende Kanonenmündung ähnele „nicht einmal annähernd der Standard-AK-130, die üblicherweise von der russischen Marine verwendet wird, oder sogar ihrer landgestützten selbstangetriebenen Version, der A-222 Bereg“, schreibt das Magazin. Auffällig sei aber das Kaliber der im Video verwendeten Munition. Die Soldaten schleppen vermutlich eine 130-Millimeter-Granate und laden damit das Geschütz. Allerdings sei dieses Kaliber zwar für Bodentruppen außergewöhnlich, für Schiffsartillerie aber die Norm.
Schiffsgeschütz an Land aufgetaucht: Erinnerung an die versenkte Moskwa
Auch der von der Ukraine versenkte Raketenkreuzer Moskwa soll dieses Kaliber verschossen haben. Allerdings geht Defense Express davon aus, dass alle verbauten Waffen auf ausgemusterten oder außer Gefecht gesetzten Schiffen größtenteils außer Dienst gestellt beziehungsweise verschrottet wurden. Das Magazin vermutet, dass inzwischen auf Granaten-Bestände der Marine zurückgegriffen wird. Newsweek bezieht sich auf eine offizielle Veröffentlichung des ukrainischen Verteidigungsministeriums auf X wonach Russland allein im Juni 1.415 Geschütze verloren haben soll.
Das ergäbe Rekord-Verluste in einem Monat seit der völkerrechtswidrigen Invasion im Februar 2022 – laut Newsweek würden die Zahlen unter Analysten aber bezweifelt werden. „Russland konnte den Einsatz von Militärausrüstung aus der Sowjetzeit nicht aufgeben, obwohl es in den Jahren zuvor damit geprahlt hatte, seine Truppen mit moderner Ausrüstung zu versorgen“, schrieb Alex Horobets Ende vergangenen Jahres. Der Autor des Magazins Europäische Sicherheit & Technik hatte da bereits beobachtet, in welchen Dimensionen Wladimir Putin im Krieg gegen die Ukraine seine Ressourcen verschleißt.
Russland in Nöten: Artillerie war schon zu Beginn der Invasion knapp
Insgesamt hätten sich demnach Russlands Verluste an Artilleriesystemen im ersten Halbjahr 2024 im Vergleich zum Jahr 2022 mehr als verfünffacht. Diese Tatsache wird den Rückgriff auf Lagerbestände nötig gemacht haben. Deshalb hatte Defense Express auch berichtet, dass Putin mit der M-46-Haubitze sogar auf eine Kanone aus der Stalin-Ära zurückgreift und angewiesen ist auf Granaten, die kaum noch auf dem Markt sind – und neu wohl höchstens in Nordkorea produziert werden.
Russlands Zwang zur Retro-Ausrüstung hat aber offenbar von Beginn des Ukraine-Krieges an bestanden, wie Defense Express berichtet. Im Sommer 2022 waren Wracks von eigentlich schon stillgelegten Panzern aufgetaucht. Demnach stieg zunächst die Zahl von zerstörten T-62, dann rollten vom Frühjahr 2023 an T-54/55-Modelle auf das Gefechtsfeld – deren Herstellung datierte zwischen 1946 und 1979 – laut russischer Angaben sollten die in der Region Saporischschja eingesetzt worden sein, „aber ihre Rolle auf dem Schlachtfeld war unklar“, schreibt Defense Express. Die fanden sie dann aber schnell als Ersatz der gezogenen Rohrartillerie – die dann wohl zu der Zeit schon gefehlt haben muss.
Zur Improvisation sind allerdings beide Seiten gezwungen – ebenfalls seit Anfang des Krieges an. Das ukrainische Militär und dessen unterstützende Industrie hätten „monatelang Teile von zerstörten Panzerfahrzeugen mit antiken Waffen in Museumsqualität und sogar Kleintransportern kombiniert“, schrieb das Magazin Forbes im Dezember 2022. „Das Ergebnis ist eine schwindelerregende Auswahl improvisierter Panzer, Raketenwerfer und Luftabwehrsysteme. Jedes davon ist das militärische Äquivalent von Frankensteins Monster.“
Ukraine fehlt das Geld für den Krieg: Investoren müssen Waffen finanzieren
Je älter der Krieg, desto zusammengezimmerter die Waffensysteme auf beiden Seiten. Einer der Unterstützer der Ukraine ist beispielsweise der heimische Spirituosen- und Delikatessenvertrieb „Okwine“. Wie er auf seiner Website ausführlich beschreibt, hat dessen Wohltätigkeitsstiftung im vergangenen Sommer ein Sonderprojekt realisiert: Das „Biest“. Innerhalb von drei Monaten hatte „Okwine“ einen vierachsigen tschechischen Tatra 815 mit normaler Pritsche umrüsten lassen in eine hochmobile 100-mm-Flugabwehrkanone. „Okwine“ betrachtet sich als Mäzen der Artilleriebatterie der 241. Brigade der ukrainischen Streitkräfte und will allein in den Kauf des Fahrzeuges 30.000 Euro investiert haben.
Nach eigenen Aussagen durfte die „Okwine“-Belegschaft nach der Fertigstellung auch einen Tag zusammen mit den Artilleristen auf einem Manövergelände die Inbetriebnahme feiern. Gerade die Artilleristen der 241. Brigade scheinen zur Improvisation gezwungen zu sein – das jedenfalls erzählte Unteroffizier Evegeny Iitvin dem Magazin Daily Beast – demnach seien sie immer wieder angewiesen auf Waffen aus der Sowjetzeit.
Im vergangenen März erhielten sie, nach Iitvins Angaben, vier KS-19-Flugabwehrkanonen; Waffen, die in den 1950er-Jahren hergestellt und die seitdem in verschiedenen Kriegen eingesetzt wurden; beispielsweise in Korea beziehungsweise Afghanistan. Laut Daily Beast besorgt sich Iitvin dann Lkw aus Tschechien und leitet die Umbauten. „Ich habe bereits an der Front gekämpft. Ich hatte die Waffen bereits. Ich wusste bereits, wie effektiv und sicher sie sind und dass alles besser und bequemer sein kann. Ich kam auf die Idee, die Waffen auf den Lastwagen zu stellen. Wir haben sie gebracht, renoviert und installiert“, sagte er.
Und er beklagt, dass wohl keiner dieser Do-It-Yourself-Lösungen ohne Spenden aus der Wirtschaft möglich wäre – die ukrainische Armee selbst habe dazu zu wenig Mittel. Laut Forbes-Autor David Axe erzähle jeder dieser Umbauten seine eigene tiefgründige Geschichte; die von Einfallsreichtum, Geschick und – Verzweiflung.