Leo Hiemer stellt sein Buch über die Toten des Zweiten Weltkriegs in Wildpoldsried vor
Der bekannte Autor und Filmemacher Leo Hiemer schreibt in seinem neuen Buch über Wildpoldsried und die Toten des Zweiten Weltkrieges.
Wildpoldsried – Im Bereich der regenerativen Energien übernimmt Wildpoldsried seit 20 Jahren eine Vorreiterrolle im Allgäu und darüber hinaus. Die Gemeinde hat sich auf den Weg gemacht, auch beim Thema Erinnerungskultur zur Avantgarde zu werden. Bürgermeisterin Renate Schön (früher Deniffel) sprach bei der Vorstellung des Buches „Erinnerung als Mahnung zum Frieden. Wildpoldsried und die Toten des Zweiten Weltkriegs“ von Leo Hiemer in diesem Zusammenhang sogar von einer „Weltpremiere“.
Leo Hiemer hält die Erinnerung an die Toten des Zweiten Weltkrieges in Wildpoldsried wach
In der Diskussion nach dem Vortrag von Professor Wolfgang Benz in Kempten über die historische Bedeutung des 8. Mai 1945 sprach Dr. Veronika Heilmannseder an, dass es im ländlichen Raum schwierig sei, die Erinnerung an die NS-Zeit wachzuhalten. Das Beispiel Wildpoldsried zeigt, dass es durchaus geht.
Den Anfang machte die 1872 nach dem „glorreichen“ Sieg über Frankreich gegründete örtliche „Krieger- und Soldatenkameradschaft“, die 2022 ihr 150-jähriges Gründungsjubiläum feierte. Am 24. Februar des gleichen Jahres begann die russische Aggression gegen die Ukraine. „Der Verein darf nicht aussterben, er ist heute wichtiger denn je“, erinnerte Erster Vorstand Willi Schlecht an die damalige Diskussion. „Wir müsset mit den jungen Leut‘ darüber reden. Die könnten wieder in den Krieg ziehen.“
Das Projekt „Erinnerung als Mahnung zum Frieden“
Das erste Ziel war, das 1952 eingeweihte Kriegerdenkmal nach den Plänen des inzwischen verstorbenen Franz Probst zu einem Erinnerungsdenkmal umzugestalten und den Platz in „Friedensplatz“ umzubenennen. In fast jeder bayerischen Gemeinde stehe ein Kriegerdenkmal und in den meisten herrsche Ratlosigkeit, wie man mit diesen umgehen solle, erklärte Michael Ritter, stellvertretender Vorsitzender des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege. „Kriege brauchen Feindbilder. Ohne Feindbilder gäbe es keine Kriege und damit keine Kriegerdenkmäler“, schrieb er im Heft 1/2024 der Zeitschrift „Schönere Heimat“ und rief dazu auf, die Chance, die diese Denkmäler bieten, in einer Zeit, in der wieder Feindbilder geschürt werden, zur Mahnung „gegen Intoleranz, Verblendung und blinde Gefolgschaft“ zu nutzen.
Die Wildpoldsrieder nutzten die Chance und entwickelten das Projekt „Erinnerung als Mahnung zum Frieden“. Im Rahmenprogramm bei der Einweihung des Denkmals tauchte das erste Mal der Name von Leo Hiemer auf: Es wurden sein Film „Leni … muss fort“ und seine Wanderausstellung „Geliebte Gabi“ gezeigt. Schließlich wurde er beauftragt, die Biografien der Wildpoldsrieder Toten des Zweiten Weltkriegs zu erforschen und zu veröffentlichen. Mit dem Buch will man daran erinnern, dass das Leid der beiden Weltkriege sich nicht wiederholen dürfe, erklärte Schlecht die Absicht des Vereins.
„Ein Glücksfall“
Er sei zunächst verwundert gewesen, dass eine Kriegerkameradschaft gerade auf ihn, der mit 18 Jahren erfolgreich den Kriegsdienst verweigert habe, zugekommen sei, erinnerte sich Hiemer und fügte hinzu: „Aber ich fand es super und sehr spannend!“ Alle Redner des Abends sprachen von einem Glücksgriff. In einer Zeit, in der nur noch sehr wenige Vertreter der Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, am Leben sind und deswegen immer weniger Zeitzeugen für die Erinnerungsarbeit zur Verfügung stehen, gelingt es dem Historiker, Filmemacher und Buchautor Hiemer sehr gut, diese Lücke teilweise zu füllen, indem er das Geschehene in konkreten Lebensgeschichten darstellt, Empathie weckt, offensiv auf junge Menschen zugeht und so wie fast immer einen Bezug zur Gegenwart herstellt.
Meine news
Hiemer, der neun Jahre nach dem Krieg geboren wurde, erinnerte sich an ein Foto, auf dem sein Vater mit dessen Bruder in Uniform zu sehen sind. Auf seine Frage, wer das sei, habe er die Antwort bekommen: „Seppl ist im Krieg geblieben. Der ist gefallen.“ Es sei von Seppl nicht mehr viel gesprochen worden.
233 Männer wurden einberufen, fast die Hälfte von ihnen kehrte nicht heim
Auch in Wildpoldsried wissen heute die wenigsten, welche Schicksale hinter den Namen an den Gedenktafeln stecken. Hiemer machte sich an die Arbeit: Große Hilfe leisteten der inzwischen verstorbene Albert Wegmann, der „jedes Haus, jede Familiengeschichte kannte“, und Johannes Vetter, der sich „als klassischer Zugezogener als kongenialer Partner erwies und über Erfahrungen mit Datenbanken verfügt“.
Der Historiker konnte auf zwei Dorfchroniken aus den Jahren 1974 und 2017 zurückgreifen. Der Zweite Vereinsvorstand Guido Eberle lieferte einen Ordner mit 30 Kondolenzbriefen von „Gefallenen und Vermissten“, die die Kompanieführer an die Familien der toten und vermissten Soldaten geschickt haben. In diesen wird genau geschildert, wie diese verwundet und gestorben sind, wodurch sich die Grausamkeit des Krieges offenbart. Hiemer fand unter den 8,1 Millionen Karten in der Zentralen Personenkartei der Wehrmacht im Bundesarchiv Berlin alle 233 einberufenen Wildpoldsrieder, von denen 106 im Krieg gestorben sind. Er habe am 24. Februar 2022 angefangen, die Akten zu studieren und die Erste, die er in die Hände bekam, war die eines Wildpoldsrieder Soldaten, der in der Ukraine gestorben ist, erzählte der Historiker.
Biografien zum Lesen und Hören
Das Buch enthält 139 Kurzbiografien, etliche Kondolenzbriefe und Dokumente und eine wissenschaftliche Einführung des Autors. Nicht nur aus Wildpoldsried stammende Wehrmachts-Angehörige gehören dazu, sondern auch Mitglieder von in die Gemeinde aufgenommenen Flüchtlingsfamilien und Ausgebombten, zwei Frauen, ein Euthanasie-Opfer, vier Besatzungsmitglieder eines abgestürzten amerikanischen Bombers, zwei hingerichtete polnische Zivilarbeiter und ein russischer Kriegsgefangener. Hiemer und die Schauspielerin Simone Schatz haben die Biografien im Studio eingelesen, der Verein hat diese auf seiner Homepage veröffentlicht.
Von den meisten der 139 Menschen sind Fotos überliefert, die abgedruckt wurden. Man blickt in junge, manchmal in kindliche Gesichter. 25 waren nicht einmal volljährig (damals 21 Jahre), als sie starben. Bei dem Absturz eines getroffenen amerikanischen Bombers geriet das Haus der Familie Steinhauser in Brand, die 17-jährige Hedwig kam dabei ums Leben. Als Hiemer ihre Schwester ausfindig gemacht und ihr das Foto der amerikanischen Soldaten gezeigt habe, sei ihre erste Reaktion „So junge Leut‘“ gewesen.
Sprache der Erinnerung
Bei den Biografien verzichtete Hiemer auf das Verb „gefallen“, weil es die Grausamkeit des gewaltsamen Todes verharmlose. Sie werden auch nicht als „Opfer“ bezeichnet, weil es unter ihnen auch Täter gab: SS-Angehörige, Mitglieder von Einheiten, die bei der „Partisanenbekämpfung“ aktiv waren. Auch die Bezeichnung „Helden“ kommt nicht vor, weil diese suggeriere, dass ihr Tod nicht umsonst gewesen sei und einen Sinn gehabt hätte. Das Wort habe vielleicht den Hinterbliebenen Trost gegeben, aber „wer das glaubt, lügt sich in die Taschen. Der Krieg ist sinnlos, er ist das größte Verbrechen, was die Menschheit begehen kann“, sagte Hiemer und fügte hinzu: „Ich hoffe, dass dieses Kriegerdenkmal in Wildpoldsried das letzte sein wird.“
Auf dem Buchcover sieht man einen Stahlhelm auf Lorbeerkranz, vor den bei der Einweihung des Denkmals vor zwei Jahren der damals elfjährige Anton Dietmayer ein von Kindern angefertigtes Mosaik einer Friedenstaube hingestellt hat. Ähnlich klang es, als Hiemer, Goebbels paraphrasierend, „Wollt ihr den humanen Krieg?“ fragte und seine Utopie formulierte: „Soldaten aller Länder, geht heim, geht heim, geht heim!“
Mit dem Kreisbote-Newsletter täglich zum Feierabend oder mit der neuen „Kreisbote“-App immer aktuell über die wichtigsten Geschichten informiert.
Feste, Konzerte, Ausstellungen: Was man in Kempten und Umgebung unternehmen kann, lesen Sie im Veranstaltungskalender.