Jetzt, wo es wieder knapp drei Millionen offiziell registrierte Arbeitslose und sehr viel mehr indirekt betroffene Familien gibt, die seine Unterstützung benötigen, heißt es allenthalben, er sei zu teuer, viel zu ineffizient und außerdem missbrauchsanfällig.
Besonders stark in Misskredit geraten ist zuletzt das Bürgergeld, mit dem SPD und Grüne in der Ampelkoalition eigentlich Hartz IV „überwinden“ wollten. Hält die Rezession länger an oder vertieft sich gar, wird es künftig noch mehr abhängig Beschäftigte, Soloselbstständige und Kleinstunternehmer, die jetzt noch Sozialneid nach unten verspüren, über eine persönliche Krisensituation hinweghelfen.
Absolute statt relative Zahlen: Lügen mit Statistik
Selbst der der Bundespräsident beteiligte sich kürzlich am populistischen Bürgergeld-Bashing und behauptete auf dem 83. Deutschen Fürsorgetag, dass die Kosten beim Bürgergeld „aus dem Ruder“ liefen.
Dabei reichen diese, wenn man das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP), den inzwischen erheblich höheren Staatshaushalt der Bundesrepublik und die schon wegen der Preisinflation ebenfalls gestiegenen Steuereinnahmen berücksichtigt, keineswegs an die staatlichen Ausgaben für Hartz IV vor zehn oder 15 Jahren heran.
Vielmehr ist der Anteil der Ausgaben für die „alte“ Grundsicherung für Arbeitsuchende (bis 2022: Hartz IV; ab 2023: Bürgergeld) am Bundeshaushalt zwischen 2014 und 2024 von 14 Prozent auf 10 Prozent zurückgegangen.
In absoluten Zahlen hat praktisch jeder einzelne Posten im Staatshaushalt – zumindest über einen längeren Zeitraum betrachtet – deutlich zugelegt; ein realistisches Bild erhält man daher nur, wenn man relative Zahlen heranzieht, die Ausgabenentwicklung also ins Verhältnis zum Gesamtetat und zur Wohlstandsmehrung der Gesellschaft setzt.
Das gilt auch für den Bundeszuschuss zur Finanzierung der Renten – mit fast 120 Milliarden Euro ein riesiger Batzen im Staatshaushalt. Vor 20 Jahren war er in Relation zum Bundeshaushalt oder zum Bruttoinlandsprodukt allerdings noch größer. Auch trägt er heute sogar bloß noch einen kleineren Teil zur Finanzierung der Renten bei, als dies früher der Fall war.
Der Sozialstaat wird zum Sündenbock gemacht
Sein Anteil an den Gesamtkosten der Gesetzlichen Rentenversicherung ist nämlich zwischen 2003 und 2022 von 23,8 Prozent auf 22,9 Prozent gesunken. Von einem übermäßigen Größenwachstum des Sozialstaates, der allseits lautstark beklagt wird, kann also gar nicht die Rede sein.
Trotzdem wird der Sozialstaat heute – wie stets, wenn sich Krisenstimmung im Land ausbreitet – zum Sündenbock gemacht, um vom Versagen der politischen Klasse abzulenken. Arbeitsministerin Bärbel Bas thematisiert beispielsweise häufig den Sozialmissbrauch ausländischer Banden (in Duisburg), den es zweifellos nicht bloß dort, also in ihrem Bundestagswahlkreis, gibt.
Deshalb sollte man ihn endlich mit geeigneten Maßnahmen bekämpfen, kriminelles Handeln auch der Hintermänner und (meistenteils deutschen) Profiteure konsequenter verfolgen sowie die Schuldigen hart bestrafen. Aber fordert irgend jemand, dass der Missbrauch unserer Steuergesetze durch Besserverdienende und Hochvermögende, den es gleichfalls gibt, damit beantwortet werden soll, dass man die Steuern für alle Reichen, auch die der (hoffentlich) vielen Steuerehrlichen, erhöht?
Bei den Menschen im Bürgergeldbezug, darunter 500.000 alleinerziehende Mütter, die am 20. des Monats nicht wissen, wie sie für ihre Kinder noch etwas Warmes auf den Tisch bekommen, hat man hingegen keine moralischen Hemmungen, den Regelsatz sowohl 2025 wie auch 2026 konstant zu halten, obwohl die Preise im Supermarkt gerade für Familien weiter stark steigen.
Reformen, die die Falschen treffen
Bas wird derweil zu „mutigen Reformen“ des Bürgergeldes und der Sozialversicherungszweige (Rente, Gesundheit und Pflege) gedrängt. Als „mutig“ gilt die Bundesarbeitsministerin paradoxerweise dann, wenn sie im Einklang mit der veröffentlichten Meinung, fast allen einflussreichen Kommentatoren und den mächtigen Unternehmerverbänden umsetzt, was deren Profitinteressen entspricht.
Mutig wäre Bas in Wirklichkeit, wenn sie diesem Druck standhielte, den Sozialstaat verteidigen und statt der Armen – Flüchtlinge und Menschen im Bürgergeldbezug – die Armut bekämpfen würde.
Statt permanent über die relativ wenigen Menschen zu sprechen, denen man Bürgergeld zahlt, ohne dass sie es wirklich brauchen, könnte man auch mal über die sehr viel größere Anzahl jener Menschen sprechen, denen Bürgergeld zusteht, ohne dass sie es beantragen – sei es aus Unwissenheit, Stolz, falscher Scham oder schlichter Angst vor dem Jobcenter.
Wollen wir die als wohlhabende, wenn nicht reiche Gesellschaft, in der sich riesige Vermögen bei wenigen (Unternehmer-)Familien konzentrieren, tatsächlich ohne Unterstützung lassen?
Was sich schon jetzt abzeichnet: Die geplanten Verschärfungen im Transferleistungsbereich werden einmal mehr die Falschen treffen, nämlich nicht die relativ wenigen „Totalverweigerer“, die den Sozialstaat ausnutzen und (zu) viel Aufmerksamkeit finden, aber clever genug sind, verschärften Sanktionen auszuweichen, sondern Bedürftige mit psychischen Problemen und Angst vor dem Jobcenter, die dessen Schreiben gar nicht öffnen.
Alternativen der Gesellschaftsentwicklung: Rüstungs- oder Sozialstaat?
Bundeskanzler Friedrich Merz stimmte die Bevölkerung im Sommer 2025 durch prägnante Formulierungen auf den „Herbst der Reformen“ und die bevorstehenden Kürzungen im System der sozialen Sicherung ein.
Auf dem Landesparteitag der niedersächsischen CDU in Osnabrück sagte er am 23. August 2025: „Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar.“ Da hatte Merz völlig recht: Wenn der Einzelplan 14 (Wehretat), wie veranschlagt, von knapp 52 Milliarden Euro im Jahr 2024 auf 152,8 Milliarden Euro im Jahr 2029 nahezu verdreifacht wird, ohne dass man irgendwelche Steuern erhöht, lässt sich der Sozialstaat in seiner bisherigen Form nicht erhalten. #
Denn selbst wenn man die Vergrößerung der Bundeswehr und die gigantischen Rüstungsprojekte auf Pump finanziert, wachsen damit zwangsläufig verbundene Zins- und Tilgungslasten enorm. Genau eine Woche später konstatierte der frühere BlackRock-Manager auf dem Landesparteitag der nordrhein-westfälischen CDU in Münster: „Wir leben seit Jahren über unsere Verhältnisse.“
Merz lenkt vom eigentlichen Problem ab
Ist es nicht hochnotpeinlich, wenn ein Multimillionär wie Merz so etwas behauptet? Vermutlich kostet eine Tankfüllung seines Privatjets erheblich mehr als 563 Euro, mit denen ein Alleinstehender im Bürgergeldbezug über den Monat kommen muss. Mit diesem Satz, der inzwischen „Regelbedarf“ heißt, kann man zwar (über)leben, aber nicht am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unseres Landes teilhaben.
Flugbenzin ist übrigens von Steuern befreit, der Transferleistungsbezieher aber nicht von der Mehrwertsteuer, die er in derselben Höhe wie ein Wohlhabender entrichten muss und die ihn genauso trifft wie parallel steigende Lebenshaltungskosten.
Merz plädierte in seinem ARD-Sommerinterview für eine „Pauschalierung“ bzw. Deckelung bei den Mietkosten im Bürgergeldbezug, die es längst gibt. Im vergangenen Jahr mussten 334.000 Bedarfsgemeinschaften monatlich 116 Euro im Durchschnitt von ihrem kargen Regelsatz für die Miete aufwenden, weil ihr Jobcenter deren Kosten nicht oder nicht voll übernahm.
Statt das Problem an der Wurzel zu packen und Maßnahmen zur Senkung der für Millionen Menschen kaum noch tragbaren Wohnungsmieten zu ergreifen, lenkte Merz den Unmut vieler Mitbürger lieber auf die davon am härtesten Betroffenen.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt die Bücher „Deutschland im Krisenmodus“ sowie „Umverteilung des Reichtums“ veröffentlicht. Er kandidierte für die Linke 2017 für das Amt des Bundespräsidenten.