Es gibt Menschen, die uns unbedingt in ihren Streit hineinziehen wollen. Sie provozieren, klagen an und ergehen sich in Schuldzuweisungen. Die 90-Sekunden-Regel ist ein gutes Instrument, um dieser Provokationsfalle zu entgehen.
Wie das gelingt, erzähle ich Ihnen anhand eines Beispiels, das ich selbst erlebt habe:
Ein erboster Herr rief mich an und fragte: „Warum lösen Sie als Konfliktmanagerin und Mediatorin einen Konflikt aus?“ Ihm war deutlich anzumerken, dass er stark erregt war. Meine Antwort war simpel und deeskalierend: „Ich befinde mich in keiner Konfliktsituation. Bitte erklären Sie mir konkret, wo Sie einen Konflikt erkennen.“
Zur Erklärung: Der Mann war unzufrieden und ärgerte sich über etwas, das ich getan hatte. Er war wütend auf mich, weil ich … Deshalb beschimpfte er mich. Er ließ seiner Wut und somit seinen Emotionen freien Lauf, indem er sie auf mich projizierte. Genau betrachtet versuchte er sogar, mich mit hineinzuziehen, indem er mir die Schuld dafür gab, dass er sich ärgerte und schlecht fühlte.
Kennen Sie das? Es ist nicht leicht, ruhig zu reagieren, wenn das Gegenüber Anschuldigungen, Schuldzuweisungen, Anklagen oder Angriffe äußert. Doch es gibt eine bedeutsame Regel, die dabei hilft, einen klaren Kopf zu bewahren. Die 90-Sekunden-Regel ist Deeskalation in Reinform.
Stephanie Huber, Expertin für Wirtschaftsmediation und Konfliktmanagement, ist Gründerin und Geschäftsführerin von konSENSation GmbH. Sie ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen ihre persönliche Auffassung auf Basis ihrer individuellen Expertise dar.
Die 90-Sekunden-Regel
Die ersten 90 Sekunden sind entscheidend dafür, wie der weitere Verlauf sich gestaltet. Die meisten Emotionen klingen nach 90 Sekunden von allein ab, sofern sie nicht genährt werden. Diese Erkenntnis beschreibt die Hirnforscherin Jill B. Taylor in ihrem Buch „Mit einem Schlag“ (Wie eine Hirnforscherin durch ihren Schlaganfall neue Dimensionen des Bewusstseins entdeckt).
Die Konzentration auf eine ruhige und tiefe Atmung sowie das Zählen von 90 herunter ist eine erprobte Möglichkeit, den Geist so lange zu beschäftigen, bis die Gefahr gebannt ist. Es ist nämlich sinnvoller, sich in aller Ruhe und deeskalierend mit dem Gegenüber zu unterhalten, als einen emotionsgeladenen Schlagabtausch zu führen.
Es geht darum, die eigenen Emotionen zu kontrollieren und sich nicht von ihnen kontrollieren oder gar vorführen zu lassen. Denn alle Themen, die in Ruhe und souverän geklärt werden, haben eine größere Chance auf eine nachhaltige Lösung. Ein Streit hingegen kostet viel Energie und ist oft sinnlos, da er nur der Befriedigung des eigenen Egos dient.
Als Mediatorin finde ich diese Methode hervorragend. Dennoch muss ich anmerken, dass sie Übung erfordert – zumindest war es bei mir so. Die ersten Versuche waren nicht so erfolgreich wie die, die danach folgten. Heute schaffe ich es meist, souverän zu reagieren. So wie bei dem Anrufer, den ich eingangs erwähnte. Es war sein Ärger und sein provozierender Versuch, mich hineinzuziehen. Und es war meine klare Entscheidung, seinen Ärger ganz allein bei ihm zu lassen. Dank der 90-Sekunden-Regel blieb ich ruhig und wir konnten das Problem klären, bevor es zu einem Konflikt eskalieren konnte.
Herzliche Einladung!
Um in Situationen, in denen Sie bisher vielleicht noch ausgeflippt sind oder sich geärgert haben, künftig ruhig zu bleiben, empfehle ich Ihnen, es selbst auszuprobieren.
Nehmen Sie sich beim nächsten verbalen Angriff bewusst 90 Sekunden Zeit. Ob Sie dabei von 90 an rückwärts zählen, ein Lied singen oder sich auf Ihre Atmung konzentrieren, ist Ihnen überlassen. Hauptsache, Sie lassen sich gar nicht erst provozieren. Denn genau das dürfte das Ziel desjenigen sein, der versucht, seinen Ärger auf Sie zu projizieren.
Fakt ist: Ein Streit oder ein Schlagabtausch wird immer von den Emotionen der Beteiligten gesteuert. Deshalb ist es wichtig, die eigenen Emotionen zu beherrschen, statt von ihnen beherrscht zu werden.
Das bedeutet jedoch nicht, gefühlskalt oder abgeklärt zu reagieren. Vielmehr bedeutet es, bewusst und souverän zu bleiben, anstatt sich maßlos und sinnlos aufzuregen.