Mehr als 100 Tote in Gaza – IDF eröffnet mitten im Andrang auf Hilfslieferungen das Feuer
In Gaza kommt es zu einer Massenpanik. Die israelische Armee eröffnet das Feuer auf Zivilisten. Ein möglicher Waffenstillstand ist dadurch gefährdet.
Gaza – Bei einem chaotischen Zwischenfall im Gazastreifen haben israelische Truppen offenbar das Feuer auf hungrige palästinensische Zivilisten eröffnet, die sich gerade um einen Lebensmittel-Lieferwagen versammelten. Das israelische Militär hat den Vorfall inzwischen bestätigt. Nach Angaben des von der Hamas kontrollierten palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza wurden dabei mindestens 104 Menschen getötet und 760 verletzt. Die Zahl der durch den Krieg im Gazastreifen getöteten Menschen beträgt laut dem Ministerium inzwischen mehr als 30.000. Diese Zahlen können nicht unabhängig verifiziert werden.

Laut der israelischen Armee fuhren am frühen Donnerstagmorgen 30 Hilfsgütertransporter über den Grenzübergang Kerem Shalom in den Gazastreifen ein und weiter Richtung Norden. Als sie die Kreuzung in Gaza-Stadt erreicht hätten, seien die fahrenden Lastwagen gestürmt worden. Dabei seien Dutzende von Menschen getötet worden. Die Lastwagen seien dann weitergefahren; als sie den Stadtteil Rimal erreicht hätten, seien bewaffnete Personen auf die Lastwagen zugestürmt, um sie zu plündern. Zu selben Zeitpunkt hätten einige Menschen aus der Menge sich einer IDF-Einheit genähert. Daraufhin hätten die Soldaten erst Warnschüsse abgegeben und schließlich auf die Beine derjenigen geschossen, die sich ihnen weiter genähert hätten.
Eine Menschenmenge gerät in Gaza in Panik - zuvor hatte die israelische Armee das Feuer eröffnet
Khadeer Al Za‘anoun, ein lokaler Journalist aus Gaza, war vor Ort und hat den Vorfall miterlebt. Gegenüber dem US-Nachrichtenportal CNN bestätigte er, dass es eine große Menschenmenge gegeben habe, die auf die Verteilung von Lebensmitteln gewartet hätte. Das Chaos und die Verwirrung, die zu dem Getrampel führten, hätten aber erst begonnen, als die israelischen Soldaten das Feuer eröffneten. „Die meisten“ Opfer seinen also durch Hilfsgüter-Lastwagen zu verzeichnen gewesen, die diejenigen Menschen rammten, die versuchten, dem israelischen Feuer zu entkommen.
Andere Augenzeugen schildern die Vorfälle ähnlich. Mahmud Ahmed, ein Anwohner, berichtete der Nachrichtenagentur dpa, dass die Bewohner am frühen Morgen Lastwagen mit Hilfslieferungen - vor allem Mehl und weitere Lebensmittel – aus dem südlichen Küstengebiet erwartet hätten; es sei noch dunkel gewesen. Plötzlich seien Schüsse gefallen, und nach den Aussagen des 27-Jährigen auch Granaten abgefeuert worden. Mahmud sei zunächst geflohen, habe jedoch bei Tagesanbruch den Ort wieder aufgesucht. Bei seiner Rückkehr habe er zahlreiche Leichen am Boden gesehen. Anwohner hätten Verletzte, teilweise auf Eselskarren, in ein Krankenhaus gebracht. Diese Informationen konnten nicht unabhängig überprüft werden.
Gesundheitssektor im Gazastreifen vor dem Zusammenbruch - Zu wenige Hilfslieferungen mit Lebensmitteln
Gegenüber der Nachrichtenagentur AFP bestätigten zwei Mediziner einen hohen Andrang auf die Krankenhäuser sowie viele Tote. Dr. Mohammad Salha, der stellvertretende Direktor des Al-Awda-Krankenhauses, sagte, dass man mit weiteren rechne. „Es gibt noch viele Verwundete in der Aufnahme und in der Notaufnahme“, so Salha weiter. Außerdem erklärte er, das Al-Awda sei weitgehend außer Betrieb, da es keinen Strom gebe. Der Operationssaal werde nur noch stundenweise mit Batteriestrom betrieben. Fast fünf Monate des Krieges zwischen Israel und der Hamas stellen den Gesundheitssektor im Gazastreifen vor eine Zerreißprobe.
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Auch die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung, die schon vor dem Krieg mangelhaft war, verschlechtert sich zusehends. Nach den von der Hamas angeführten Terroranschlägen vom 7. Oktober ordnete Israel eine „vollständige Belagerung“ des Gazastreifens an, wie es der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant damals ausdrückte. Ziel war es, die Hamas-Kämpfer zu schwächen und sicherzustellen, dass keine militärischen Güter in die Enklave gelangen konnten. Israelische Beamte behaupten, dass sie immer noch Lebensmittel und andere humanitäre Hilfsgüter in die Enklave lassen, aber dass Hilfsorganisationen diese nicht effizient verteilt haben.
Hungertod tausender Zivilisten droht - Behindert die israelische Armee systematisch Hilfslieferungen?
Viele Menschenrechtsexperten bestreiten jedoch, dass die ineffiziente Verteilung der Hilfsgüter die Hauptursache für die Nahrungsmittelknappheit ist. Nach Ansicht dieser Experten hat Israel zu lange gebraucht, um die Lieferungen zu kontrollieren und für die Einfuhr zu genehmigen. Nach Angaben des Welternährungsprogramms gelangten nur 20 bis 30 Prozent der benötigten Nahrungsmittel nach Gaza. Die UNO beklagt, dass sich die Menge der Hilfslieferungen im Februar im Vergleich zum Vormonat halbiert habe – es drohe der Hungertod tausender Zivilisten. Laut der Organisation UNICEF haben die Bewohner des Gazastreifens nur 1,5 bis 2 Liter Wasser pro Tag zur Verfügung – gemäß den humanitären Standards beträgt die Mindestmenge an Wasser 15 Liter.
„Die Behauptung der IDF, es habe sich um eine Massenpanik gehandelt, unterstreicht nur die Notwendigkeit, dass unabhängige internationale Organisationen die humanitären Bemühungen in Gaza leiten“, so der Leiter des Center for American Progress, Patrick Gaspard, gegenüber CNN. US-Beamte hätten monatelang daran gearbeitet, lebensrettende Hilfe für die verzweifelte Zivilbevölkerung bereitzustellen. Dies sei von der israelischen Regierung immer wieder behindert worden. Ein Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates der USA unterstrich, dass man sich „der katastrophalen humanitären Lage im Gazastreifen bewusst“ sei. Der Zustrom humanitärer Hilfe müsse ausgeweitet werden, auch durch einen möglichen vorübergehenden Waffenstillstand.
Gegenseitige Schuldzuweisungen - Ein Waffenstillstand im Gazastreifen könnte gefährdet sein
Allerdings ist das Zustandekommen eines solchen Waffenstillstands durch die Vorfälle am Donnerstagmorgen erheblich erschwert worden. Die Hamas hat einen Abbruch der Verhandlungen über die Freilassung der israelischen Geiseln und ein Waffenstillstands-Abkommen angedroht. Das berichtet dich Nachrichtenagentur Reuters. „Die von der Führung der Bewegung geführten Verhandlungen sind kein offener Prozess auf Kosten des Blutes unseres Volkes“, hieß es in der Erklärung, die sich auf die Todesopfer vom Donnerstag bezog und Israel die Verantwortung für ein Scheitern der Gespräche zuschrieb.
Auch US-Präsident Joe Biden wies darauf hin, dass die Gespräche dadurch erschwert worden seien. Er hoffe weiterhin auf eine Einigung, doch sei es unwahrscheinlich, dass bis Montag (4. März) - dem Tag, an dem Biden den Beginn eines Waffenstillstands erwartet - eine Einigung erzielt werde. (tpn)