Angst vor Briefen des unbekannten Vaters
Elfriede Wipplinger-Stürzer hat die Briefe ihres Vaters, die dieser im 2. Weltkrieg an der Front schrieb, lange Zeit nicht geöffnet. Die 82-Jährige, die ihren Vater nie kennengelernt hatte, hatte Angst davor. Doch dann fasste sie sich ein Herz.
Aßling – Im Juli 1943 wollte Hitler noch einmal einen großen Sieg gegen die Sowjetarmee erzwingen. Knapp 800 000 Soldaten mit 2500 Panzern und Sturmgeschützen bot die Wehrmacht bei der russischen Stadt Kursk auf. Die letzte deutsche Großoffensive des Zweiten Weltkriegs scheiterte, 200 000 deutsche Soldaten fielen.
Darunter wohl auch der Vater von Elfriede Wipplinger-Stürzer. Die 82-Jährige durfte ihren Vater nie kennenlernen. Geblieben sind ihr nur die Briefe, die der damals 31-Jährige an seinen Bruder schrieb.
Wechselbad der Gefühle
Es ist ein Wechselbad der Gefühle, als Wipplinger-Stürzer durch die Briefe blättert. Insgesamt neun sind es, die ihr Onkel an ihren Bruder vererbt hatte. Nach dessen Tod wiederum gingen sie an die Aßlingerin. „Ich habe die Briefe erstmal wochenlang liegen gehabt, weil ich nicht in der Lage war, sie durchzulesen“, erzählt die 82-Jährige. „Irgendwann hab ich mir dann ein Herz gefasst und sie mir vorgenommen. Ich wollte ja wissen, was drin steht!“ Die Briefe waren in der alten deutschen Schreibschrift verfasst, die Wipplinger-Stürzer nicht mehr gelernt hatte – und demnach nicht lesen konnte. Ebenso wenig ihr Bruder. Der habe zwar ein bisschen etwas von dem, was der Vater geschrieben hatte, herausgefunden, doch das reichte Wipplinger-Stürzer nicht. „Ich wollte es genau wissen.“
Also gab die 82-Jährige eine Annonce auf, mit wenig Hoffnung. Doch höre und staune – „und ja, ich hab wirklich gestaunt“, so Wipplinger-Stürzer – es meldeten sich vier Leute, die bereit waren, ihr beim Übersetzen der Briefe zu helfen.
Briefe an die Mutter gingen verloren
„Ich habe so Angst davor gehabt, sie zu lesen“, gesteht Wipplinger-Stürzer. „Aber dann habe ich mir doch ein Herz gefasst.“ Es sei nicht gar so herzergreifend gewesen, wie sie befürchtet hatte, „das wären dann wohl eher die Briefe gewesen, die an meine Mutter gingen“, vermutet sie, aber diese Briefe sind bei der Evakuierung gegen Ende des Krieges verloren gegangen.
So schreibt ihr Vater, in einem Viehwagon mit 40 Mann in einem Abteil an die Front gebracht worden zu sein. Ein anderes Mal berichtet er davon, stundenlang in der Kälte Wacheschieben zu müssen, obwohl er und seine Kameraden ihre Gliedmaßen schon nicht mehr spüren würden. In einem weiteren Brief berichtet er, es sei nachmittags um vier, er friere und habe unwahrscheinlichen Hunger, weil sie noch nichts zu essen bekommen hätten. „Und da schreibt er auch“, sagt Wipplinger-Stürzer und lacht kurz, „mich wundert’s ja, dass er sich das getraut hat, ‚da heißt es immer, alles für die Soldaten und dann bekommen wir nichts zu essen.‘“
Briefe des Vaters sind erschütternd
Erschütternd sei es gewesen, sagt die 82-Jährige, zu lesen, wie es ihrem Vater ergangen war. „Wenn er schreibt, ‚es regnet und regnet und regnet, und es geht inzwischen durch die Plane durch‘“, alles sei feucht und furchtbar, furchtbar schlecht auszuhalten. „Ich bin leider etwas fantasiebegabt“, so Wipplinger-Stürzer, „und ich habe mich da einfach in ihn hineinversetzt. Das hat mich wirklich erschüttert und ich habe mir nur gedacht, mein Gott, wie furchtbar muss das sein.“
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Und dann, in seinen letzten Briefen an den Bruder, schreibt er, dass sie vom Feind umkreist würden.
Was danach mit ihrem Vater passiert ist, weiß die 82-Jährige nicht. 1943 war bei Kursk die größte Panzerschlacht der Geschichte, „von da an haben wir nichts mehr von ihm gehört“, erzählt die Aßlingerin. „Also nehmen wir an, dass er dort gefallen ist.“ Diese Theorie hat Wipplinger-Stürzer aber erst, seit sie die Briefe kennt. All die Zeit zuvor hatten sie und ihre Familie keine konkrete Idee, was mit ihrem Vater passiert sein könnte. „Wir haben lange Zeit befürchtet, er ist erfroren“, erzählt sie. Soldaten, die angeblich mit ihm in der Kompanie waren, sollen zu ihrer Mutter gesagt haben, es sei ihm so schlecht gegangen, dass sie ihn zurücklassen mussten. „Das geht aber aus seinen Briefen nicht hervor“, erklärt die 82-Jährige. „Aber natürlich haben wir trotzdem gedacht: Oh Gott, Russland im Winter, die mussten ihn zurücklassen – er ist bestimmt erfroren.“
Vater will Bruder Geld für neuen Anzug schicken
Da sie nun weiß, dass ihr Vater bei Kursk war, habe sie über die Schlacht recherchiert – und ist sich recht sicher, dass er eigentlich nicht entkommen konnte. „Das ist natürlich blöd“, sagt sie leise, „wenn ich jetzt sage, das tröstet mich. Weil das ja natürlich auch kein schöner Tod ist.“ Doch die hohe Wahrscheinlichkeit beruhige sie etwas, denn eine andere Befürchtung, die die Familie lange geplagt hat „und was viel schlimmer gewesen wäre“: Der Vater sei den Partisanen in die Hände gefallen. „Was die mit den Leuten angestellt haben“, sagt Wipplinger-Stürzer und stockt; die Fantasie sich das auszudenken, wolle sie nicht.
Neben dem Geld, dass ihr Vater nach Hause geschickt habe, spricht er in den Briefen auch von Geld, das er seinem Bruder schicken will und von dem er sich, sobald er wieder zu Hause ist, einen Anzug kaufen wolle. „Das hat mich eigentlich am meisten erschüttert, weil ich mir gedacht habe, wie fest muss er noch geglaubt haben, dass er wieder nach Hause kommt“, betont Wipplinger-Stürzer. „Wenn man sich das vorstellt. 31 Jahre alt, zwei kleine Kinder zu Hause, muss in den Krieg und sein junges Leben lassen, weil so ein Wahnsinniger Kriegstreiber war.“
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Sicherlich wären die Briefe an die Mutter emotionaler und aufwühlender gewesen, vermutet die Aßlingerin. Da habe er vermutlich anders geschrieben und auch über seine Kinder. „An seinen Bruder hat er halt geschrieben, wie die Männer in dieser Generation eben untereinander waren, nach dem Motto, ein Mann kennt keine Schwäche, und nur sehr wenig von Gefühlen.“ Trotzdem ist es ein Teil ihres Vaters, den die 82-Jähriger nach so langer Zeit endlich kennenlernen durfte.
Von ihrer Mutter wisse sie, dass ihr Vater ein sehr musischer, feinsinniger Mann gewesen sei. Er habe ein Buch geschrieben, dass er nie hatte veröffentlichen können. „Wenn man sich überlegt, was da alles an Potenzial verheizt wird“, meint die 82-Jährige kopfschüttelnd. „Weil ein Wahnsinniger Krieg mit der ganzen Welt anfängt.“
Sie selbst schreibe recht erfolgreich Theaterstücke, erzählt die Aßlingerin weiter. „Und ich bilde mir gern ein, dass ich das von ihm hab. Quasi eine Seelenverwandtschaft mit meinem Vater, den ich nie kennengelernt habe.“