Immer mehr Menschen über 70 bei psychologischer Beratung – Leiter einer Anlaufstelle erklärt Trend

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EFL-Leiter Dr. Paulo Nicoly Menezes stammt aus Brasilien. Ihm liegt die Beratung von Migranten sehr am Herzen. Das Bild im Hintergrund ist eine Reminiszenz an seine Heimat. © EMANUEL GRONAU

Ob junge Männer, die sich mit ihren verschiedenen Rollen im Privat- und Berufsleben überfordert fühlen, oder Senioren, die mit Problemen wie Trennung vom Partner oder Einsamkeit zu kämpfen haben: Viele Menschen wenden sich hilfesuchend an die Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen Weilheim. Diese legte jetzt neue Zahlen vor.

Landkreis – „Es kommen immer mehr Menschen über 70 Jahre zu uns“, sagt Dr. Paulo Nicoly Menezes, der die in Weilheim ansässige Psychologische Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen (EFL) der Diözese Augsburg leitet. „Der Trend hat 2023 angefangen, heuer ist er noch deutlicher.“ Als Grund nennt der Diplomphilosoph und -theologe, dass ältere Menschen auch angesichts einer gestiegenen Lebenserwartung heute oft – wie jüngere – dafür kämpften, bei Problemen ihre Beziehung und Lebensqualität zu verbessern. Auf Hilfe durch die Beratungsstelle hoffen Senioren etwa, wenn sie in ihrer Partnerschaft besser kommunizieren oder eine Trennung aufarbeiten wollen.

Ein weiterer Trend ist laut Nicoly Menezes, dass Männer und Frauen bei der EFL Rat suchen, die nicht in klassischen, heterosexuellen Beziehungen leben, sondern in homosexuellen oder polyamoren (Liebesbeziehungen mit mehreren Partnern). „Solche Menschen trauen sich langsam hierherzukommen“, so der Leiter der kirchlichen Beratungsstelle.

Paarberatung mit größtem Anteil

Trotz personeller Engpässe leisteten die Mitarbeiter der EFL Weilheim einschließlich der Außenstellen in Landsberg und Starnberg im vergangenen Jahr mehr Beratungsstunden als 2022: Deren Zahl kletterte von 2582 auf 3040. Der Löwenanteil entfiel dabei im Vorjahr mit 1741 Stunden auf die Paarberatung. Gesunken ist allerdings die Zahl der Klienten: von 742 auf 695. Das lag laut Nicoly Menezes auch daran, dass 2023 viele Beratungsprozesse länger dauerten als üblich. Ein Grund war außerdem, dass ein Mitarbeiter wegen Elternzeit teilweise fehlte.

Insgesamt stellte die EFL Weilheim im Vorjahr fest, dass der Bedarf an psychologischer Beratung ihre Möglichkeiten „dauerhaft übersteigt“, wie es ihr Leiter im Jahresbericht formulierte. „Das Team hat sich im vergangenen Jahr wie immer sehr stark engagiert“, so Nicoly Menezes im Pressegespräch. „Sonst hätten wir es nicht so gut hingekriegt.“ Die Wartezeit bis zur Erstberatung habe aber teilweise bei einer „sehr langen Warteliste“ fünf bis sechs Wochen betragen – und war damit länger als eigentlich angestrebt. In den Gesprächen mit den Klienten habe sich 2023 gezeigt, dass die allgemeine Situation mit den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten sowie mit dem Klimawandel Beschwerden wie Depressionen und Erschöpfung verstärkt. Auch die gesellschaftliche Spaltung könne als Belastung empfunden werden.

Auch Beratung für Migranten

Angesichts des steigenden Bedarfs ist die EFL dazu übergegangen, stärker darauf zu achten, dass Fälle innerhalb der vorgegebenen Frist abgeschlossen werden. Ausnahmen werden aber gemacht. Deshalb können Klienten unter bestimmten Voraussetzungen länger als eigentlich vorgesehen auf die Hilfe der EFL setzen, wie Nicoly Menezes erklärt.

Ein Tätigkeitsbereich, der dem Stellenleiter besonders am Herzen liegt, ist die Beratung von Migranten, die im Vorjahr von 76 Menschen in Anspruch genommen wurde (2022: 68). Eine „Migrantengruppe“, die einmal jährlich von der EFL Weilheim angeboten wird, leitet der gebürtige Brasilianer Nicoly Menezes selbst. Bei dieser Veranstaltung spielen Themen eine Rolle, die laut dem psychologischen Berater viele in Deutschland lebende Ausländer beschäftigen, etwa Identitätskonflikte. „Die Gruppe bietet Migrantinnen und Migranten die Möglichkeit, sich über ihre Erfahrungen, Herausforderungen und Wünsche – über Freud und Leid – auszutauschen, sich gegenseitig zu unterstützen und hilfreiche Anregungen zu erhalten“, so Nicoly Menezes.

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Langfristig Stellenabbau erwartet

Die Mitarbeiter der EFL Weilheim – derzeit fünf Berater und eine Verwaltungskraft – bilden sich laut dem Stellenleiter ständig fort. Sie nehmen an Teamsitzungen genauso teil wie an Super- und Intervisionen (Formen der beruflichen Beratung) und an Beratertagen.

An eine Erweiterung des Teams sei derzeit nicht zu denken, macht Nicoly Menezes deutlich. Er rechnet trotz des gestiegenen Bedarfs eher mit einem langfristigen Stellenabbau, weil die finanziellen Ressourcen der Diözese unter den vielen Kirchenaustritten leiden. 2023 ging zwar eine Beraterin in den Ruhestand, doch konnten ihre Arbeitsstunden von ihren bisherigen Kollegen übernommen werden.

Finanzielle Hilfe auch von Städten und durch Spenden

Finanziert wird die EFL Weilheim nicht nur von der Diözese, sondern auch durch die Städte Weilheim, Starnberg und Landsberg (10 Prozent) sowie durch Spenden (ebenfalls 10 Prozent). Wer für das Beratungsangebot spenden möchte, kann sich unter Telefon 0881/901150911 melden. Online-Infos über die EFL des Bistums Augsburg.: https://ehe-familien-lebensfragen.de.

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