"Sind schon im Krieg": Nato-Experten ziehen 3 Lehren aus Putin-Angriff auf Kiew

Shark-Kampfdrohen, mit denen die Ukraine die russischen Invasoren bekämpft, digitale Schießstände zum Üben militärischer Nahkampfsituationen oder Infos über eine hochmoderne 130-Meter-Fregatte für knapp 300 Millionen Euro: Das Angebot der Herstellerstände, die die Gäste im "Großfürstlichen Schloss zu Vilnius" empfangen, bringt selbst erfahrenste Generäle zum Staunen. "Beeindruckend, was man hier alles sieht", sagt Tomasz Piotrowski, bis 2023 als General noch Einsatzbefehlshaber von Polens Streitkräften.

Naumann-Stiftung will Lehren aus Ukraine-Krieg nach Deutschland tragen

Piotrowksi zählt zu den 35 Top-Militärexperten, die bei der Konferenz "Defending Baltics" Anfang der Woche in Litauens Hauptstadt Vilnius zwei Tage lang auf dem Podium saßen und ihr Wissen mit rund 600 geladenen zivilen und uniformierten Militärexperten teilten. 

Das wichtigste Thema, um das es bei der 2. Ausgabe dieser Militärtagung ging: Wie können baltische Staaten und Nato-Mitglieder mit Blick auf eine befürchtete weitere militärische Eskalation durch Putins Truppen von den Erfahrungen profitieren, die die Ukrainer seit inzwischen fast vier Jahren in einem nunmehr von Drohnen dominierten Krieg gemacht haben?

"Wir wollen Einschätzungen zu den Themen Sicherheit und Verteidigung von hier auch nach Deutschland tragen", erläutert Julius von Freytag-Loringhoven, der als Leiter der "Friedrich Naumann Foundation for Freedom" in Vilnius mit zwei litauischen Partnern die Militärtagung ins Leben gerufen hat.

Einen russischen Angriff auf Nato-Gebiet im Blick: Militärexperten in Vilnius vor einer ukrainischen Mini-Shark-Drohne.
Einen russischen Angriff auf Nato-Gebiet im Blick: Militärexperten in Vilnius vor einer ukrainischen Mini-Shark-Drohne. Ulf Lüdeke / FOCUS online

"Vorbereitetes Militär und politischer Wille nötig, um auf russische Kriegsgefahr zu reagieren"

"Was wir beobachten, ist, dass immer mehr Bürger sich darüber klar werden, was für ein entscheidendes Element bei allem, was wir tun, die Resilienz der Gesellschaft ist", erklärt Polens einstiger Einsatzbefehlshaber auf der Bühne.

Wichtig bei der Verbesserung der militärischen Abschreckung sei vor allem jene in Bezug auf die Ostsee, so Piotrowski – das habe man bislang noch nicht geschafft. "Dazu braucht es eine starke gemeinsame Verteidigungspolitik und eine starke militärische Führung", so der 57-Jährige. Um auf eine "hybride Eskalation" Russlands im Cyberspace und aus der Luft angemessen reagieren zu können, brauche es sowohl eine entsprechende "militärische Vorbereitung und den politischen Willen dazu", so Piotrowski. Die Voraussetzungen dafür zu schaffen, sei umso wichtiger, weil die russische Armee ebenfalls aus den Kriegserfahrungen in der Ukraine lerne.

Ein Gadget der Firma LtMilTech, deren Einnahmen zu 50 Prozent an die Ukraine gehen.
Ein Gadget der Firma LtMilTech, deren Einnahmen zu 50 Prozent an die Ukraine gehen. Ulf Lüdeke / FOCUS online

Militärexperte: "Nicht die Ukraine, sondern der Westen ist Putins erklärtes Angriffsziel"

Niemand sollte sich zudem darauf verlassen, dass Russland erst um 2030 bereit wäre für eine Ausweitung des Krieges auf den Westen, warnte Sandis Šrāders, Direktor für den Fachbereich Verteidigungspolitik und Innovation an der lettischen Universität Riga. "Das könnte auch früher sein", so Šrāders. 

Es gebe genügend Hinweise, die dafür sprächen, dass Putin eine Ausweitung des Konflikts auf Westeuropa plane. "Dazu zählen die Provokationen während der Militärübung 'Sapad' im vergangenen Sommer in Belarus, bei der Fallschirmspringer nahe der Grenze zu Polen eingesetzt wurden." 

Allein der Name der Übung, die "Westen" bedeute, lasse zudem keine Zweifel daran, was das eigentliche Ziel des Krieges gegen die Ukraine sei. "Putin erklärt der Bevölkerung immer wieder, dass der Krieg keiner gegen die Ukraine sei, sondern ein Krieg gegen den Westen", betonte Šrāders.

US-Kriegsanalyst: Warum Putins Tod nichts ändern würde

Das sieht auch US-Experte George Barros nicht anders. Von den Schwächen der russischen Truppen zu Beginn der Invasion in der Ukraine sei nichts mehr zu spüren. "Putins Truppen sind im Donbass in der Lage, große Angriffe zu fahren", so der Russland-Analyst des renommierten Washingtoner "Institute for the Study of War". 

Zwar gebe es in der europäischen Bevölkerung einen Anteil von rund 30 Prozent, der fest daran glaube, dass durch Putins Truppen keine weitere Gefahr drohe. "Doch wir beobachten jeden Tag etwas anderes und sehen, wie sie sich darauf vorbereiten", erklärte Barros. "Die Nato muss auf diesen Krieg vorbereitet sein." 

Als eine der Schlüsselaufgaben, um Putin Grenzen zu setzen, nannte Barros "die Fähigkeit der Industrie, auf diese Entwicklung schnell mit Innovationen reagieren zu können". 

Verteidigungspolitik-Experte Šrāders ergänzte diese Prognose mit der Warnung, "dass sich daran auch nichts ändern wird, falls Putin sterben sollte". Putin binde immer mehr Personen im Militärapparat ein, baue eine neue Reservearmee auf. Außerdem würde Russland eine Abkehr von der Kriegswirtschaft, auf die inzwischen die gesamte Ökonomie des Landes ausgelegt ist, nicht verkraften.

Militärindustrie fordert gemeinsame Technik-Standards für Drohneneinsätze

Eine zentrale Rolle bei der Militärtagung nahm das Thema Drohnen ein. "Vom Himmel kommt die größte Gefahr", hatte schon zum Auftakt der Tagung Estlands Streitkräftechef Andrus Merilo gewarnt. Abgesehen von den Drohnenangriffen auf die Ukraine verwies Merilo auf die anhaltenden Verletzungen des Luftraums von Nato-Staaten in Europa durch Spähversuche mit russischen Drohnen. "Wir sind schon im Konflikt mit Russland, wir sind jetzt schon im Krieg", rief Merilo den Militärexperten zu.

Die Verteidigungsindustrie appellierte in Vilnius an die Teilnehmer der Militärtagung, mit entsprechenden klaren Regeln darauf zu reagieren, wolle man Erfolg in der Abwehr russischer Angriffe haben. "Ganz wichtig ist, dass wir für die Steuerung von Drohnen und anderen unbemannten Vehikeln einen gemeinsamen Standard schaffen", erklärte Maurits Korthals Altes, CEO von Intelic, einem niederländischen Software-Konzern, der sich auf militärische Luft- und Bodeneinsätze konzentriert.

Litauens Armeechef: "Schade, dass es eines neuen Krieges bedurfte, bis Politik aufwachte"

Raimundas Vaikšnoras, Oberbefehlshaber der litauischen Streitkräfte, hatte es beim ersten direkten Aufeinandertreffen der Streitkräftechefs der drei kleinen baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen als "wichtigsten Schritt" in Bezug auf die Sicherheit des Landes bezeichnet, dass sein Land vor 20 Jahren in die Nato eingetreten sei. "Schade nur, dass es eines neuen Krieges bedurfte, um die Politik in Europa aufzuwecken", ergänzte Vaikšnoras. 

Neben der militärischen Stärkung sei es unabdingbar für ein erfolgreiches und schnelles Parieren russischer Angriffe, dass auch die Bevölkerung mit ihren vielen zivilen Organisationen die Notwendigkeit erkenne, sich vorzubereiten.

Dies bestätigte auch sein lettischer Amtskollege Kaspars Pudāns. "In Lettland können wir seit sechs, sieben Jahren offen über Szenarien sprechen, was den Ausbau der Streitkräfte betrifft und den Schutz der Zivilbevölkerung. Der Angriff von Russland hat uns geholfen, den Sinn der Verteidigung zu erklären", sagte Pudāns vor den Militärexperten in Vilnius.

Bereitet die Bevölkerung von Vilnius auf einen möglich russischen Angriff vor: Bügermeister Valdas Benkunskas.
Bereitet die Bevölkerung von Vilnius auf einen möglich russischen Angriff vor: Bügermeister Valdas Benkunskas. Ruta Chairutdinovaite

Zivilbevölkerung von Vilnius auf russischen Angriff längst vorbereitet

Gut beobachten lässt sich dies inzwischen auch in der litauischen Hauptstadt selbst. "Normalerweise sind Bürgermeister dafür da, neue Straßen zu bauen und Kindergärten einzuweihen. Bei uns in Vilnius ist das inzwischen aber anders", sagt Valdas Benkunskas, Bürgermeister der Hauptstadt. 

Benkunskas hat in der Stadt, die nur etwas mehr als 20 Kilometer westlich der belarussischen Grenze und 130 Kilometer östlich der russischen Exklave Kaliningrad sowie dem Suwalki-Korridor liegt, diverse Maßnahmen umgesetzt, die die Zivilbevölkerung im Fall einer russischen Aggression auf litauischem Territorium vorbereiten sollen. 

Dazu gehören Zivilschutzprojekte wie die Bereitstellung von 2000 Schutzräumen in Vilnius oder die Verteilung von Notfall-Anleitungen selbst für Kinder und Lehrer für den Angriffsfall. Oder die längst erfolgte Aktivierung und bereits getestete App namens "Kovas", die ständig über diverse mögliche Gefahren aus Russland informiert und Anleitungen gibt, wie man sich dagegen schützen kann. Auch die längst erfolgte Aufstockung von Lebensmittel- und Wasservorräten für den Kriegsfall wurde von der Stadt organisiert.

Viel Zeit ist noch nicht vergangen, seit diese Vorkehrungen getroffen worden sind. "Vor dem 22. Februar 2022 war das auch in Vilnius noch kein Thema", sagt Julius Bartaševičius, der als Technik-Experte die litauischen Streitkräfte berät. "Doch seit Russlands Angriff auf die Ukraine hat sich das geändert und ist zur Normalität geworden", sagte Bartaševičius zu FOCUS online.