„Wir leben im Hier und Jetzt“: Ukrainische Familie hat in Bad Wiessee Fuß gefasst - und will bleiben
Als Putin die ersten Bomben über ihrer Heimat abwerfen ließ, ergriff Nadiaa Ahadzhanova mit ihren drei Kindern die Flucht. Sie endete in Bad Wiessee. Dort hat die ganze Familie nach nun zwei Jahren ein neues Zuhause und Arbeit gefunden.
Bad Wiessee – Deutsch hat Nadiaa (37) als Studentin an der Uni gelernt. Damals wollte sie Lehrerin werden. Aber der Berufswunsch wechselte. Nadiaa arbeitete in der Ukraine als Immobilienmaklerin, lebte mit Ehemann Davyd (43) und drei Söhnen in einer Kleinstadt im Donezk-Gebiet. Dass sie die fast vergessene Sprache noch einmal brauchen würde, hätte sie nicht gedacht. Bis zum 24. Februar 2022, dem Tag der Invasion Russlands in die Ukraine.
Der Zufall führte Nadiaa und ihre Kinder von München nach Bad Wiessee
In Panik machte sich Nadiaa mit den Zwillingen Timur und Tihran, heute 16, und dem jetzt zehnjährigen Sohn Artem auf den Weg, um dem Bombardement zu entkommen. „Es waren fünf schlimme Tage“, erinnert sich Timur. Erschöpft erreichten Mutter und Kinder das sichere Deutschland. Am Münchner Hauptbahnhof sprach eine freundliche Frau Nadiaa an. Sie habe einen Bekannten in Bad Wiessee, der helfen wolle, sagte sie. Dort wäre es sicher angenehmer als in der großen Auffang-Unterkunft. Nadiaa und die Kinder stiegen ein.
Familie findet vorübergehende Heimat im Abwinkler Hof
Am 5. März kamen die drei in Bad Wiessee an. Erst bezogen sie ein Privatquartier, konnten durchatmen. Nach zwei Monaten folgte Ehemann Davyd seiner Frau und den Kindern nach Deutschland, gemeinsam mit seinen Eltern Valentina (70) und Murhen (75). Die Familie war wieder vereint – und fand eine Unterkunft im Abwinkler Hof. Dessen Eigentümer stellten das Gebäude der Gemeinde Bad Wiessee für die Unterbringung von Geflüchteten zur Verfügung, bis der Abriss der Nebengebäude und die Sanierung des Haupthauses begannen.
Nadiaa arbeitet in einem Hotel und will noch eine Ausbildung machen
Heute lebt die Familie in einer Gemeindewohnung. Die Miete können sie stemmen, Bürgergeld haben sie nie bezogen. Nadiaa arbeitet in einem Hotel ganz in der Nähe, im Service. „Ich brauche von meiner Wohnung aus nur zwei Minuten zur Arbeit“, berichtet sie. Sie mag den Job, will noch eine Ausbildung in der Hotelbranche machen. „Damit ich einen richtigen deutschen Beruf habe“, meint sie. Ihre – ohnehin guten – Sprachkenntnisse poliert sie in Kursen auf.
Die 16-jährigen Zwillinge haben eine Brückenklasse für Geflüchtete aus der Ukraine im Gymnasium Tegernsee besucht und schnell deutsch gelernt. Und für Tihran ist ein Traum wahr geworden. Deutsche Autos haben ihn schon fasziniert, als er noch in der Ukraine lebte. Im September konnte er einen Ausbildungsplatz als Kfz-Mechatroniker bei einem großen Wiesseer Autohaus antreten. „Das ist echt gut“, sagt Tihran.
Der Vater will irgendwann wieder als Lokführer arbeiten
Sein Bruder will in diesem Jahr die Mittlere Reife schaffen. Sein Traumberuf: Physiotherapeut. In einer nahen Klinik durfte er ein Praktikum machen. Seitdem ist er noch entschlossener, diesen Beruf zu ergreifen. Sein Vater Davyd ist übrigens in der Küche jener Klinik beschäftigt. Aber er wolle irgendwann als Lokführer arbeiten, wie schon zuhause in der Ukraine, erzählt Nadiaa. Davyd hatte keine Zeit fürs Gespräch: Er war noch im Dienst.
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Putins Bomben haben die Heimat der Familie im Donbas in Trümmer gelegt. Mitte September ist jetzt auch Davyds Schwester mit ihren zwei Söhnen nach Bad Wiessee geflohen. Sie arbeitet als Reinigungskraft im Wiesseer Rathaus. Die Großeltern sind froh, dass ihre Enkel Fuß gefasst haben am neuen Wohnort. „Aber die Sprache ist schwer“, meint Valentina. Ihr Mann Murhen braucht nach einem Schlaganfall viel Unterstützung. Über Heimweh spricht sie nicht: „Es ist, wie es ist.“
Die Familie zieht es nicht zurück in die zerstörte Heimat
Nadiaa und die Ihren zieht es nicht zurück in die zerstörte Heimat: „Wer weiß, wie lange der Krieg noch dauert.“ In Bad Wiessee haben sie Arbeit und eine Wohnung, die Familie ist beisammen. Dazu gehört der kleine Hund Archie. Nadiaa hat ihn als Trost für den jüngsten Sohn Artem gekauft. „Er war so traurig, dass wir unseren Hund und unsere Katze in der Ukraine zurücklassen mussten“, erzählt Nadia.
Ihren Jungs geht’s heute gut, sie haben eine Zukunft, das zählt. Was die nächsten Jahre bringen werden, sagt Tihran, wisse ohnehin keiner: „Wir leben im Hier und Jetzt.“
jm
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