Brandon Morrell spricht über zehn Jahre Flüchtlingshilfe im Landkreis – ein Interview
Der Wolfratshauser Pädagoge und Soziologe Brandon Morrell spricht über eine Dekade Flüchtlingshilfe im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen.
Seit inzwischen zehn Jahren ist der Verein „Hilfe von Mensch zu Mensch“ im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen aktiv. Soziologe und Pädagoge Brandon Morrell (39) arbeitet seit 2017 für den Verein. Der Wolfratshauser koordiniert die Flüchtlings- und Integrationsberatung zwischen Icking und der Jachenau. In einem Interview mit Redakteurin Doris Schmid blickt er auf das vergangene Jahrzehnt zurück.
Herr Morrell, seit zehn Jahren ist der Verein „Hilfe von Mensch zu Mensch“ in der Flüchtlingshilfe im Landkreis aktiv. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Der Ausspruch „Wir schaffen das!“ unserer ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel hat nie etwas darüber gesagt, wann, sondern lediglich, dass die Integration von Flüchtlingen angepackt werden muss und soweit auch keine wirkliche Alternative besteht. Das Ziel stets vor Augen ist klar, dass es vor allem darum gehen muss, an der Sache dranzubleiben und dabei nie aufzuhören, die humanitären Prinzipien unserer Gesellschaft zu befolgen.
Ihr Verein ist auch in der Stadt München sowie den Nachbarlandkreisen München, Miesbach und Weilheim-Schongau tätig. Gibt es Unterschiede?
In den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass sich regionale Strukturen ergeben können, die ganz individuell sind, was wichtig ist, da nicht jeder Ort dieselben Themen gleich darstellen kann. In den Städten ist der Bedarf an Hilfen für Familien und Kinder größer als in den ländlichen Regionen. Und die allgemeinen regionalen Themen betreffen jeden Bürger gleichermaßen.
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Welche Themen sind das?
Schule, Arbeit, soziale Angebote und öffentlicher Nahverkehr. Die asyl- und fluchtspezifischen Themen mögen sich vielleicht nicht unterscheiden. Aber, wie in jedem sozialen Gefüge, sind es die strukturellen Unterschiede, die zu Variationen führen.
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Wie viele Flüchtlinge gibt es aktuell im Landkreis, wie viele davon betreuen Sie und Ihr Team?
Die Frage nach der Anzahl der Flüchtlinge ist nicht so einfach zu beantworten. Den Status eines Flüchtlings erwerben in Deutschland die wenigsten der Asylantragsteller. Es muss zum Beispiel zwischen Personen unterschieden werden, bei denen die Klärung noch läuft, vielleicht auch bereits im Rahmen eines Klageverfahrens, und denjenigen, die eine Anerkennung als schutzberechtigte Person erhalten haben. Hier ist die Gruppe der Personen wiederum zu unterscheiden zwischen Flüchtlingen, subsidiär Schutzberechtigten und geduldeten Personen.
Für wen sind Sie zuständig?
Wir von der Flüchtlings- und Integrationsberatung sind zunächst lediglich zuständig für den Anteil der Menschen, die noch kein bestätigtes Bleiberecht erhalten haben sowie innerhalb der ersten Zeit direkt nach der Anerkennung. Da jedoch die Unterbringung der Klienten in jedem Landkreis eine Schwierigkeit darstellt, ist eine klare Trennung auch deshalb schwierig, da häufig Personen mit einem laufenden Verfahren und solche, die bereits bleibeberechtigt sind, weiterhin zusammenleben. Dafür besteht aber auch die Möglichkeit der Migrationsberatung, die im Landkreis auch anteilig von unserem Verein gestellt wird in Form von Anne Weinhart mit Büro in Geretsried. Der Anteil der „Anerkannten“, die noch in Flüchtlingsunterkünften leben, hat sich in den vergangenen Jahren immer weiter verringert. Zum einen, da selber der nächste Schritt ergriffen wurde, oder aber auch, weil der Landkreis sich bemüht, diese Personen aufzufangen.
Haben Sie eine Zahl für uns?
Die Zahl der im Landkreis lebenden Flüchtlinge, ohne Personen, die eine Berechtigung haben, in Deutschland zu bleiben, beläuft sich alleine auf über 1000 Personen. Zu diesen noch im laufenden Verfahren stehenden Personen kommen zusätzlich etwa 30 Prozent zur Beratungsmasse an Personen hinzu, die bereits eine offizielle Bleibeberechtigung erhalten haben.
Sind in dieser Zahl auch die Menschen aus der Ukraine und Ortskräfte aus Afghanistan erfasst?
Nicht mit aufgeführt sind in diesen Zahlen die Flüchtlinge, die als Ortskräfte aus Afghanistan zu uns gekommen sind. Also Personen, die in Afghanistan mit den Kräften der westlichen Hilfen an Aufbauprojekten beteiligt waren, aber bei der Machtübernahme der Taliban fliehen mussten. Auch die meisten der ukrainischen Hilfesuchenden, also Menschen, die aus dem Kriegsgebiet der Ukraine geflohen sind und als solche auch leichter den Status des Asyls erhalten haben, sind nicht absolut in diesen Zahlen erfasst.
Woher stammt der entfernteste Flüchtling?
Der entfernteste Flüchtling, mit dem ich persönlich bisher arbeiten durfte, war eine Frau aus Peru. Da wir im Landkreis jedoch in einem Team aus neun Personen arbeiten, hat jeder von uns seine eigenen speziellen Fälle. Wir haben Flüchtlinge aus Somalia, Sierra Leone, Transsylvanien und dem Kongo wie aus vielen weiteren Nationen der ganzen Welt.
Viele Gemeinschaftsunterkünfte gibt es schon seit einigen Jahren. Hat sich das Zusammenleben eingespielt oder beginnt der Kreislauf stets von vorn, wenn neue Flüchtlinge einziehen?
Sowohl als auch. Natürlich ergeben sich gewisse Strukturen, die auch so weitergeführt werden und als Standard in den Unterkünften gelten. Allerdings hängt dies auch immer von weiteren Faktoren ab. Wie viele Personen wohnen insgesamt in der Unterkunft? Wie entwickelt sich ein Verhältnis zwischen neu eingezogenen Personen zu den schon vorher dort Lebenden? Auch äußerliche Aspekte spielen eine große Rolle, sei es eine veränderte Aufstellung offizieller Posten im Landkreis, darunter zum Beispiel die Angestellten in den Unterkünften, oder aber auch ganz allgemein große Veränderungen wie die Einführung der Bezahlkarte, bei der noch nicht zu 100 Prozent absehbar ist, was sich ändern wird im täglichen Ablauf in den Unterkünften.
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Wie viele Fehlbeleger gibt es in den Unterkünften?
Der Landkreis ist sehr darum bemüht, die Situation abzufangen. Die Zahl der Fehlbeleger ist deshalb in den vergangenen Jahren immer weiter zurückgegangen. Ein Problem, das daraus resultiert, ist, dass Wohnraum, der für Neuzuweisungen vielleicht gebraucht werden würde, noch nicht zu 100 Prozent zur Verfügung steht. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage: Was ist besser? Personen des Hauses verweisen, ohne gesicherte Aussicht auf Wohnraum, oder aber es hinnehmen, dass es ein paar Fehlbeleger gibt? Ich denke, der Landkreis bemüht sich darum, einen Mittelweg zu finden hinsichtlich der Notwendigkeiten und der Optionen.
Kommen immer noch konstant Flüchtlinge in den Landkreis?
Es erfolgt aktuell eine Zuweisung von circa 50 Flüchtlingen alle zwei Wochen. Diese werden zunächst in den Erstunterbringungen aufgenommen. Dann bemüht man sich, so schnell wie möglich einen angemessenen Wohnraum innerhalb der Flüchtlingsunterbringungen für diese Personen zu finden.
Was halten Sie für das Wichtigste an Ihrer Arbeit?
Das Wichtigste in der Arbeit sind zwei Dinge: Zuerst die Menschlichkeit, weil jeder Mensch Rechte hat und respektiert werden muss. Als mindestens genauso wichtigen Bestandteil der Arbeit muss aber auch der realistische Umgang mit der Situation gesehen werden. In der Flüchtlingsberatung geht es nicht darum, auf Biegen und Brechen eine Möglichkeit des Verbleibs in Deutschland zu erzwingen, sondern darum zu helfen, mit der Situation zurechtzukommen und den besten Weg zu finden.