Pflegegrad: Bayernweit jeder fünfte Widerspruch erfolgreich - „Genauer hinschauen“

  1. Startseite
  2. Lokales
  3. Miesbach
  4. Miesbach

Kommentare

Auf Pflege angewiesen – aber wie stark? Das beurteilt ein Gutachter des Medizinischen Dienstes. Doch dessen Gutachten sind nicht immer richtig. © Jens Kalaene/dpa

Der VdK-Kreisverband rät Pflegebedürftigen und Angehörigen, bei der Zuteilung des Pflegegrads genauer hinzuschauen. Nicht jede Entscheidung müsse hingenommen werden.

Landkreis – Was dem Medizinischen Dienst überregional immer wieder vorgeworfen wird, trifft aus Sicht des Sozialverbands VdK auch auf Gutachten im Landkreis zu: „Wir haben festgestellt, dass der Pflegegrad sehr häufig falsch eingeschätzt wird“, sagt Kristian Müller, Kreisgeschäftsführer des Sozialverbands, gegenüber unserer Zeitung. „Bayernweit haben wir mit jedem vierten Widerspruch und jeder zweiten Klage, die von uns geführt wird, Erfolg.“

Im vergangenen Jahr habe der Kreisverband 281 Beratungen durchgeführt, 43 Widersprüche eingereicht und 16 Klagen geführt. Insgesamt seien die Zahlen noch höher, meint Müller mit Verweis darauf, dass der VdK nicht an allen Widersprüchen beteiligt ist. Zur Einordnung ergänzt der Sozialjurist: „Die Erfolgsquote ist sehr hoch im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten.“ Absicht wolle er dem Medizinischen Dienst, der die Gutachten im Auftrag der Pflegekassen anfertigt, nicht unterstellen. „Aber die Gutachter liegen teils deftig daneben“, sagt Müller – und nennt verschiedene Gründe, die er dafür ausgemacht hat.

VdK kritisiert Telefon- Gutachten und Fehler

Einer davon seien telefonische Gutachten, die in der Corona-Pandemie, aber auch danach, vom Medizinischen Dienst Bayern (MDB) verstärkt durchgeführt würden. Statt eines persönlichen Besuchs beantworten Pflegebedürftige dabei Fragen am Hörer. „Diese Gutachten sind teils sehr fehlerbehaftet“, meint Müller. Der MDB könne die telefonische Variante nach freiem Ermessen wählen.

Kristian Müller, VdK-Kreisgeschäftsführer
.
Kristian Müller, VdK-Kreisgeschäftsführer. © arp

Aber auch über Gutachter vor Ort bekomme der Sozialverband teilweise die erstaunte Rückmeldung, dass die Mitarbeiter nur kurz in ihren Laptop geschaut hätten. „Klar – viele Fragen beantworten die Mitarbeiter schon beim Hineingehen für sich.“ Aber später stelle sich oft heraus, dass die Gutachter pflegerelevante Diagnosen vergessen hätten. Exemplarisch erklärt Müller: „Wenn jemand zwei Knieprothesen hat und kaum noch Stufen gehen kann, im Gutachten aber ,Treppensteigen selbstständig möglich‘ steht, dann stimmt etwas nicht.“ Bundesweit spiegeln sich Fälle wie diese in Statistiken wider, wie zuletzt in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage des Linken-Abgeordneten Ates Gürpinar aus dem Kreis Rosenheim: Daraus geht hervor, dass Widersprüche gegen Erstgutachten und weitere Gutachten des Medizinischen Dienstes Bund (MD Bund) in den vergangenen vier Jahren in je knapp 30 Prozent der Fälle Erfolg hatten.

Die Zahl bezieht sich auf diejenigen Fälle, in denen zuvor Widerspruch eingelegt wurde – was der Statistik nach bundesweit bei rund sieben Prozent aller erstellten Gutachten des MD Bund der Fall war.

Medizinischer Dienst ordnet Zahlen ein

Anders als bei den bundesweit knapp 30 Prozent waren Widersprüche beim Medizinischen Dienst Bayern (MDB) zuletzt in „nur 21 Prozent der Fälle erfolgreich in dem Sinne, dass der Pflegegrad korrigiert wurde, weil er bereits bei der Vorbegutachtung bestand“, teilt indes der MDB im Namen der Vorstandsvorsitzenden Claudia Wöhler auf Anfrage mit. Der Anteil der Gutachten, gegen die Widerspruch eingelegt wurde, lag 2023 laut MDB bei 7,6 Prozent – „trotz kontinuierlich wachsendem Auftragsvolumen“. Daraus ergebe sich ein Anteil von 1,6 Prozent aller Antragsstellungen, gegen die Widersprüche erfolgreich waren, rechnet der MDB vor.

In absoluten Zahlen ausgedrückt heißt das: Unter 406 808 Stellungnahmen des MDB wurde gegen 30 980 Widerspruch eingelegt. Davon waren 6533 erfolgreich. „Die Aussage ,sehr häufig‘ ist pauschalisierend und irreführend, da hier nicht mit absoluten Zahlen gearbeitet wird“, kritisiert Wöhler.

Bundesweit betrachtet, liege der Anteil der Widerspruchsgutachten zwischen sechs und acht Prozent, bestätigt die Vorstandsvorsitzende. „Bei jedem zweiten Widerspruchsgutachten wird der bereits festgestellte Pflegegrad bestätigt.“ Bei 20 Prozent habe sich die Pflegebedürftigkeit zwischen Begutachtung und Widerspruch verändert. Und bei knapp jedem dritten Widerspruchsgutachten werde ein anderer Pflegegrad festgestellt. „Ursache dafür ist häufig, dass zum Zeitpunkt der vorangegangenen Begutachtung nicht alle relevanten Informationen vorlagen“, so Wöhler.

+++ Lesen Sie auch: Pflegegrad oft zu niedrig eingestuft – wie Sie die typischen Fehler vermeiden +++

Zu den von Müller vermuteten Ursachen – Telefon-Gutachten und vergessene Diagnosen – erklärt Wöhler: „Durch das Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz sind ab Januar dieses Jahres Begutachtungen per Telefon mit erheblichen Limitierungen möglich.“ Schon von 2020 bis 2022 sei diese Form wegen des Infektionsrisikos gewählt worden. Aber: Die Gutachter „haben das Know-how“, betont Wöhler. Bei Erstanträgen und pflegebedürftigen Kindern seien Hausbesuche selbstverständlich.

Die häufigsten Ursachen für spätere Stattgaben seien indes fehlende Informationen zum Zeitpunkt der Begutachtung, erklärt der MDB. Seltener würden Patienten dabei falsche oder zu positive Angaben zur eigenen körperlichen Verfassung machen. Wöhler räumt in der Antwort des MDB aber ein: „Es kann auch vorkommen, dass Informationen vom Gutachter übersehen werden.“ nap

So läuft ein Widerspruchsverfahren ab

Wenn Patienten einen Pflegegrad beantragen wollen, können sie dies formlos bei der Pflegekasse tun, erklärt Kristian Müller, Kreisgeschäftsführer des VdK. Die Pflegekasse nimmt den Antrag auf und beauftragt den Medizinischen Dienst Bayern (MDB) mit der Begutachtung des Antragstellers. Der MDB mache dann einen Terminvorschlag, bei dem sich ein Gutachter – telefonisch oder vor Ort – ein Bild macht. „Das Gutachten wird dann an die Pflegekasse geschickt, die auf dieser Grundlage einen Bescheid erlässt und an den Antragssteller schickt.“

Wer damit nicht einverstanden ist, muss sich beeilen: Patienten haben einen Monat Zeit, um einen fristwahrenden Widerspruch einzulegen. „Das ist knapp – gerade bei Pflegebedürftigen bleibt die Post oft liegen“, sagt Müller. Ist der Widerspruch verschickt, sollten sich Pflegebedürftige beraten lassen – etwa vom Anwalt oder dem VdK. „Unsere Aufgabe ist es, den Widerspruch stichhaltig zu begründen – beispielsweise mit Stellungnahmen von Ärzten, Angehörigen und den Patienten.“ Sehr oft seien Hausärzte gefragt, die die Pflegebedürftigen und alle ihre Vorerkrankungen aus teils langjährigen Behandlungen kennen würden. Auch aktuelle medizinische Unterlagen sind relevant. „Die sind sehr wichtig, um die Diagnosen auf Vollständigkeit zu prüfen und die Ausprägung der Erkrankungen zu erfahren.“

Im Anschluss werde die Widerspruchsbegründung an die Pflegekasse geschickt, die mehrere Möglichkeiten habe: Entweder prüft die Kasse erneut den Sachverhalt und gibt ein zweites Gutachten beim MDB in Auftrag oder sie gibt den Widerspruch an den Widerspruchsausschuss der Pflegekasse weiter, welcher darüber entscheidet, ob der Widerspruch abgelehnt oder ihm stattgegeben wird. Auf Basis dieser Entscheidung erlasse die Pflegekasse einen Widerspruchsbescheid.

Ab jetzt sei wieder ein Monat Zeit, um im Zweifel Klage beim Sozialgericht zu erheben. „Der Widerspruch sollte aber fundiert sein, bevor man Gerichte damit beschäftigt.“ Oft sei das der Fall, sagt der VdK-Kreisgeschäftsführer. „Es würde sich für viele rentieren, genauer hinzuschauen und die Entscheidung nicht hinzunehmen.“ nap

Eine Auswahl aller wichtigen Geschichten aus Ihrer Region erhalten Sie in unserem kostenlosen Newsletter regelmäßig und direkt per Mail. Melden Sie sich hier an für Tegernsee, hier für Miesbach und hier für Holzkirchen.

Auch interessant

Kommentare