Richtungskampf nach Wahlschlappe - Nach Baerbock-Rückzug gibt es zwei Grünen-Szenarien – eines führt weit nach links
Vor der Bundestagswahl hatten einige Grüne gewarnt: Wenn das Ergebnis schlecht ausfallen würde, könnte in der Partei ein Sturm aufziehen, der die Grundfesten der vergangenen Jahre hinwegfegt. Der erste Teil des Szenarios ist nun zweifelsohne eingetreten. Niemand bei den Grünen ist zufrieden mit den 11,6 Prozent. Der zweite Teil, der Sturm, lässt noch auf sich warten – aber die Angst davor ist groß.
Tief sitzt in der Partei noch der Schrecken der Zeit vor 2018. Die Grünen galten damals als chronisch zerstritten. Dann übernahmen Robert Habeck und Annalena Baerbock als Vorsitzende. Ausgerechnet die beiden Realos einten die Partei und führten sie 2021 und 2025 als Kanzlerkandidaten zu den zwei historisch besten Grünen-Bundestagswahlergebnissen. Doch letztlich blieben beide Politiker hinter den hohen Erwartungen zurück. Ihre Idee einer grünen Volkspartei wurde nie wirklich Realität.
Habeck und Baerbock weg: Geht jetzt ein Zyklus zu Ende?
Habeck will nach der Wahl nun keine Spitzenämter mehr übernehmen, seine Rolle in der Fraktion ist offen. Baerbock hat am Mittwoch nun ebenfalls erklärt, sich zurückzuziehen und das in einem Brief an die grüne Bundestagsfraktion begründet. Den Fraktionsvorsitz, für den sie gehandelt wurde, will sie nicht anstreben.
Doch es geht bei den Grünen längst um mehr als die politische Zukunft der beiden prägenden Gesichter der vergangenen Jahre. Es geht jetzt darum, ob mit ihrem Abtreten ein Zyklus der relativen Geschlossenheit zu Ende geht und alte Grabenkämpfe wieder aufbrechen.
Uneinigkeit bei Analyse des Grünen-Wahlergebnisses
Ein Anzeichen dafür ist die Analyse des Wahlergebnisses. Die Uneinigkeit beginnt schon vor den Inhalten: Die einen, vor allem Realos, wollen keine übereiligen Schlüsse ziehen. Auf der anderen Seite beklagen Parteilinke, dass das bisherige Ausbleiben einer echten Aufarbeitung die Ratlosigkeit an der Parteispitze widerspiegeln würde.
Die gegensätzlichen Ansichten setzen sich beim Blick auf die Gründe für das dürftige Abschneiden fort. Realos verweisen auf die großen Linien wie den international erstarkenden Populismus der Ränder, gegen den die Mitte-Grünen kaum ankommen konnten. So erklärt man sich dann auch, warum die Linkspartei viele vormalige Grünen-Wähler gewinnen konnte. Grüne des linken Parteiflügels schauen lieber auf den Abstrom zur Union. In dem sehen sie bestätigt, dass Habecks bürgerlicher Kurs im Kampf um ehemalige Merkel-Anhänger die falsche Strategie war.
Ein stiller Kampf um die Deutungshoheit
Immerhin beschuldigen sich die Flügel derzeit nicht laustark gegenseitig, den Wahlkampf sabotiert zu haben. Aber letztlich scheint doch einzutreten, was viele Grüne befürchtet haben: Jeder Flügel sucht die zu seiner Positionierung passenden Zahlen aus der Wahlanalyse, liefert auf deren Grundlage eine verkürzte Erklärung für das Ergebnis und fordert dann, künftig stärker berücksichtigt zu werden.
So tobt bei den Grünen ein Kampf um die Deutungshoheit, der bislang aber vor allem im Stillen stattfindet. Ein reinigendes Gewitter ist bislang nicht ausgebrochen. Wie oftmals in den vergangenen Jahren gibt es zwar erkennbare Risse in der Partei, auch harte interne Diskussionen. Doch zu Ende ausgetragen wurden diese selten.
Formelkompromiss bei Migration hat Konflikte verdeckt
Exemplarisch steht dafür die Migrationspolitik. Die grünen Regierungsmitglieder haben mit den Asylrechtsverschärfungen der Ampel dem linken Teil der Basis viel zugemutet in den vergangenen Jahren. Vor Parteitagen versuchte der linke Flügel dann mit zahlreichen Anträgen die Funktionäre in die Schranken zu weisen.
So war es auch im vergangenen November, kurz nachdem die Regierung geplatzt war. Im aufziehenden Wahlkampf gelang Realos und Linken in aufreibenden Verhandlungen noch ein Kompromiss. Auf dem Parteitag in Wiesbaden blieb der erwartete Streit auf offener Bühne aus.
Unermüdlich erklärten zahlreiche Grüne, es sei mit der Einigung ein großer Wurf gelungen, von einem Formelkompromiss könne keine Rede sein. Doch letztlich war es genau das. Schon als es um das Migrationskapitel im Wahlprogramm ging, flatterten erneut zahlreiche Änderungsanträge von links herein. Und als Kanzlerkandidat Habeck nach dem Attentat in Aschaffenburg eine „Vollstreckungsoffensive“ forderte, sorgte das für Aufregung, doch der Wahlkmapf disziplinierte schließlich beide Seiten.
Konfliktscheue Grüne? „Klärung grundlegender Fragen wegverhandelt“
Einige gewichtige Stimmen in der Partei fordern deshalb, Konflikte künftig wieder bis zum Ende auszutragen. Jan Philipp Albrecht, Vorsitzender der parteinahen Böll-Stiftung, schrieb in einem Kommentar zum Wahlergebnis, die Grünen hätten zuletzt viel Wert darauf gelegt, bei umstrittenen Themen Geschlossenheit zu vermitteln.
„Auch wenn grüne Parteitage noch immer mehr offene Debatten und Abstimmungen mit sich bringen, als bei vielen anderen Parteien, so wurde […] die Klärung grundlegender Fragen strategischer Ausrichtung und Priorisierung eher wegverhandelt, als sich auf offener Bühne schwierigen Fragen und auch real existierenden Zielkonflikten zu stellen“, so Albrecht.
Baerbock-Rückzug: Private Gründe oder verlorener Machtkampf?
Es passt in dieses Bild, dass auch die personelle Neuaufstellung der Grünen derzeit seltsam still und langsam abläuft. Die Parteivorsitzenden Franziska Brantner und Felix Banaszak wurden erst im November gewählt, befinden sich deshalb bei vielen noch in der Schonzeit. Vorerst gibt es auch in der Fraktion keine Veränderungen. Katharina Dröge und Britta Hasselmann wurden in der vergangenen Woche interimistisch an der Spitze wiedergewählt.
Dabei war eigentlich allen klar, dass es in der Opposition einen harten Kampf um die wenigen verbliebenen Spitzenpositionen gibt. Annalena Baerbock, übergangsweise noch Außenministerin, wurden Ambitionen auf die Hasselmann-Nachfolge nachgesagt. Das hat sich nun zerschlagen.
Baerbock gibt private Gründe für ihren Verzicht an. Tatsächlich hat sie das Ministeramt belastet. Während der Regierungszeit sah sie ihre Kinder wenig, die Ehe ging in die Brüche. Womöglich gibt es aber auch politische Gründe: Hat Baerbock schlichtweg einen Machtkampf verloren?
Hätte sie die Führung der Bundestagsabgeordneten übernommen, wäre sie für die nächsten Jahre das prägende Gesicht der Grünen geworden. Nach der erfolglosen Kanzlerkandidatur 2021 wäre es eine zweite Chance für sie gewesen. Vor allem Parteilinke hätten damit aber gefremdelt. Ein Neuanfang mit Baerbock hätte sich nur schwer kommunizieren lassen.
Für Fraktionsspitze gibt es jetzt zwei Optionen
Wie ein Umbruch aussehen soll, hat zum Beispiel Jette Nietzard, Co-Vorsitzende der Grünen Jugend, skizziert: Sie forderte direkt nach der Bundestagswahl einen Linksschwenk. Viele denken ähnlich, äußern sich aber öffentlich weniger klar.
Nach dem Baerbock-Rückzug tut sich jetzt aber eine Chance auf. Eine Option wäre, dass die bisherigen Fraktionsvorsitzenden Hasselmann und Dröge dauerhaft im Amt bleiben in der Hoffnung, dass sie nun endlich aus dem Schatten von Habeck und Baerbock treten können. Eine andere Option wäre ein radikaler Umbruch.
„Eine linke Doppelspitze käme da ausdrücklich in Betracht“
Die Fraktion hat wie schon in der vergangenen Legislaturperiode ein leichtes linkes Übergewicht, die Realos sind weiter in der Minderheit. Ein Mitglied des linken Parteiflügels fordert im Gespräch mit FOCUS online auch deshalb, alte Muster zu durchbrechen: „Nach acht Jahren mit einer Realo-Doppelspitze in der Führung brauchen wir personelle Veränderungen.“
Konkret heißt das: „Ich sehe es nicht als Naturgesetz, dass Linke und Realos sich den Fraktionsvorsitz teilen. Eine linke Doppelspitze käme da ausdrücklich in Betracht.“ Für die meisten Realos ist das ein Affront. Nach den Jahren der Dominanz sind sie aber in die Defensive geraten. Auch, weil ihnen neben Baerbock auch Robert Habeck als prominenter Vertreter abhandengekommen ist.
Neben-Papst Habeck könnte für Konflikte sorgen
Der erfolglose Kanzlerkandidat hat angekündigt, künftig nicht mehr für Spitzenämter zur Verfügung zu stehen. Sein Bundestagsmandat will Habeck aber annehmen. Das birgt Konfliktpotenzial: Wenn er zwar keine Verantwortung trägt, aber eine Art Neben-Papst wird, könnte das die eigentliche Führung brüskieren.
In der Fraktion sind sich zwar viele einig, dass es zuforderst an Habeck ist, seine Rolle zu klären. Aber häufig schwingt doch mit, wie man sich diese wünschen würde: Manchem Vertreter des linken Flügels wäre es recht, wenn Habeck sich trotz Mandat weitestgehend aus den Debatten heraushält. Realos verweisen hingegen darauf, dass die Grünen gut beraten wären, die Stärken des Kanzlerkandidaten auch weiterhin zu nutzen.
Geht Habeck, verprellt das tausende Neumitglieder
Habecks Rolle ist eine heikle Frage. Zehntausende Menschen sind im vergangenen Jahr in die Partei eingetreten, viele davon seinetwegen. Zahlreiche Neumitglieder gehören jetzt auch zu den Unterzeichnern eines offenen Briefs, der Habeck explizit bittet, weiterhin „Führung und Verantwortung“ zu übernehmen.
Einer der mittlerweile 450.000 Unterzeichner, ein Grünen-Neumitglied aus Thüringen, erklärt im Gespräch mit FOCUS online, er sei „nach wie vor angetan, wie Habeck Leute mitnehmen und komplexe Zusammenhänge erklären kann“. Deshalb sei er für die Partei unverzichtbar. Ohne Habeck und bei einem Linksschwenk wäre für das Neumitglied aber nicht mehr gesetzt, dass er die Grünen bedingungslos unterstützen werde.
„Lang und Audretsch sollten zentrale Rolle einnehmen“
Welche Gesichter neben Habeck künftig die Partei prägen sollen, wird sich jetzt sortieren. Die meisten sind vorsichtig, wenn es um konkrete Namen geht. Ein Bundestagsmitglied vom linken Flügel äußert aber doch einen Wunsch: „In der neuen Fraktion sollten Ricarda Lang und Andreas Audretsch eine zentrale Rolle einnehmen.“
Audretsch war zuletzt stellvertretender Fraktionsvorsitzender, stieg im vergangenen Jahr zudem zum Wahlkampfmanager der Grünen auf. Allerdings wurde dem Parteilinken eine Verbindung zur Gelbhaar-Affäre in Berlin unterstellt. Zwar gibt es dafür bisher keine Belege. Sollte Audretsch aber weiter aufsteigen, könnte ihn das Thema wieder einholen.
Lang ist beliebt, hält sich aber zurück
Im Fall von Lang sieht die Sache anders aus. Seit ihrem Rücktritt von der Parteispitze erfreut sie sich breiter Beleibtheit. Doch nach einem halben Jahr mit dem Sprung an die Fraktionsspitze in die erste Reihe zurückzukehren, ist für sie derzeit keine Option. Lang will sich zunächst als Fachpolitikerin um Haushaltsfragen sowie um soziale Themen kümmern. Gleichwohl schließt das nicht aus, dass sie künftig wieder wichtiger werden wird.
Solange nicht feststeht, wer die Fraktionsführung künftig übernehmen wird, sind viele Abgeordnete bemüht darum, die bevorstehende Entscheidung nicht zu hoch zu hängen. Das gilt auch für Unterstützerinnen und Unterstützer von Lang. „Die Entscheidung über den Fraktionsvorsitz wird keine Vorfestlegung mit Blick auf die Wahl 2029 sein“, betont eine linke Stimme.
Bringt ein Parteitag im März Klarheit?
Inhaltlich könnte sich in der praktischen Oppositionsarbeit aber schon bald ein neuer Kurs herauskristallisieren. Parteilinke wollen zum Beispiel dem Klimathema wieder mehr Raum geben. Dabei geht es auch darum, in der Regierung verloren gegangen Vertrauen bei grünen Vorfeldorganisationen wie Fridays for Future zurückzugewinnen – was mit einem radikaleren Kurs einhergehen könnte.
Realo-Stimmen warnen hingegen davor, sich zu sehr auf ein Thema zu fokussieren und in der Parlamentsarbeit zu überziehen. Im Grunde solle die Partei auch in der Opposition nur Anträge einbringen, die man in einer Regierung schreiben würde.
Die Fortsetzung des alten Habeck-Regierungskurses in der Opposition oder doch ein Schwenk nach links: Es gibt viel Diskussionsbedarf in der Partei. Noch im März könnte ein kleiner Parteitag Raum dafür bieten. Womöglich bricht dann doch noch ein großer Sturm los – und trägt die Grünen zu neuen Ufern.