Roderich Kiesewetter im Interview - Hatte Habeck am Ende Recht? CDU-Mann hat Ukraine-Warnung für die eigene Partei

FOCUS online: Die Union hat sich, so heißt es immer wieder, akribisch auf mögliche Szenarien nach der Wahl vorbereitet. Hatten Sie auch ein Szenario in der Schublade liegen, in dem US-Präsident Donald Trump mit Europa und der Ukraine bricht?

Roderich Kiesewetter: Ja, ich warne schon seit zwei Jahren davor. Wir befinden uns in einem Worst-Case-Szenario, das aber absehbar war. Trump hat schon im vergangenen Jahr festgestellt, dass Europa auf dem eigenen Boden keine Sicherheit organisieren will, was er als Affront begriffen hat. Das hat Deutschland aber leider nicht dazu gebracht, ein solches Szenario in der eigenen Politik einzupreisen.

„Handlungsfähige Regierung hätte versucht, das zu verhindern“

Olaf Scholz ist als Kanzler abgewählt, aber noch im Amt. Friedrich Merz wird voraussichtlich sein Nachfolger, hat aber noch keine Koalition. Steckt Deutschland in einer außenpolitisch heiklen Phase in einem Machtvakuum?

Kiesewetter: Auch das kommt nicht aus heiterem Himmel. Nach der Bundestagswahl 2021 und während der damaligen Regierungsbildung haben Russland und Belarus ihre Eskalation gegenüber der Ukraine begonnen, die dann in der Vollinvasion 2022 mündete. Ähnlich wird jetzt wieder das Vakuum in der Mitte Europas im wirtschaftsstärksten Land genutzt. 

Das muss zwingend dazu führen, dass Friedrich Merz für die CDU und Lars Klingbeil für die SPD das Land wieder zur Handlungsfähigkeit führen. Bis Ostern muss die Regierungsbildung abgeschlossen sein. Sonst wird um Deutschland herum ein Bündnis geschmiedet – wir müssen dieses Bündnis aber aktiv mitgestalten.

Sie sprechen davon, dass das Vakuum genutzt werde. Also ist es kein Zufall, dass die internationalen Entwicklungen gerade jetzt stattfinden?

Kiesewetter: Wir erleben einen Epochenwechsel. Dieser 28. Februar 2025, an dem Trump den ukrainischen Präsidenten aus dem Weißen Haus geschmissen hat, hat eine ähnliche historische Dimension wie der 9. November 1989, als die Mauer gefallen ist. Der Tag zementiert das Ende der transatlantischen Sicherheitspartnerschaft. Wir haben eine Eskalations-Orchestrierung des Vizepräsidenten JD Vance gesehen und zuvor schon, dass Trump keinerlei Vorleistungen für Verhandlungen von Russland verlangt hat. Im Gegenteil, er hat zum Beispiel die Stationierung von Nato-Truppen in der Ukraine und deren mögliche Mitgliedschaft im Verteidigungsbündnis abgeräumt. 

Das sind Dinge, die eine handlungsfähige deutsche Regierung sicherlich mit intensiver europäischer Diplomatie versucht hätte zu verhindern.

Taurus: Scholz soll künftiger Regierung Handlungsspielräume schaffen

Wie können Union und SPD gemeinsam sicherstellen, dass Deutschland außenpolitisch handlungsfähig bleibt – und Scholz einen künftigen Kanzler nicht vor vollendete Tatsachen stellt?

Kiesewetter: Ich glaube nicht, dass Scholz uns vor vollendete Tatsachen stellt, sondern dass die Entwicklung um Deutschland herum uns vor vollendete Tatsachen stellen könnte. Deshalb sollten wir sehr rasch unser Schicksal in die Hand nehmen. Wir sollten in abgestimmten Gesprächen europaweit die Finanzierung abklären. Die Rüstungsproduktion muss standardisiert und angeschoben werden. In Deutschland gibt es gegen die Rüstungsindustrie immer noch Vorbehalte. 

Wir sollten uns außerdem schnell darauf einigen, die eingefrorenen russischen Vermögen für die Ukraine zu verwenden. Und Scholz sollte sich beim Taurus bewegen und die Ausbildung beginnen. Das heißt noch nicht, dass er selbst die Lieferung zusagt, aber er würde der künftigen Regierung Handlungsspielräume schaffen, dann sofort zu liefern. All das sind kleine, niedrigschwellige Maßnahmen, die aber extrem wichtig sind.

Es gibt aus der Union die Forderung, Scholz solle Merz zu internationalen Gipfeltreffen mitnehmen. Wie soll das funktionieren? Als Angela Merkel 2021 den Wahlsieger Scholz mitgenommen hat, war der immerhin Finanzminister – Merz ist bislang nur Oppositionsführer.

Kiesewetter: Es wäre ein starkes Zeichen gewesen für Kontinuität. Aber offensichtlich hat Scholz kein Bedürfnis, mit seinem Nachfolger zusammenzuarbeiten, obwohl es angesichts der Notlage angemessen erscheint. Es ist nun vergossene Milch, darüber zu diskutieren.

Scholz-Sprecher Steffen Hebestreit hat zuletzt bekräftigt, dass es kein „Regierungspraktikum“ für Friedrich Merz geben soll, bei dem er zum Beispiel zu Gipfeltreffen mitfahren könnte. Halten Sie das in Wortwahl und Vorgehen für angemessen angesichts der Lage?

Kiesewetter: Nein, es wäre angemessen gewesen, hätte Scholz die vergangenen drei Jahre nicht einfach verstreichen lassen. Er hat sich an US-Präsident Joe Biden gebunden, statt die europäische Sicherheit zu organisieren – das ist sein Hauptversäumnis. Dass Scholz jetzt sarkastisch und zögerlich weitermacht wie immer, ist keine Überraschung.

„Scholz‘ Zögern war keine Besonnenheit, sondern unterlassene Hilfeleistung“

Aus der scheidenden Regierung heißt es jetzt, dass man wegen der endenden Legislaturperiode kein wahnsinnig attraktiver Gesprächspartner mehr sei für einen amerikanischen Präsidenten. Soll das vielleicht auch davon ablenken, dass Scholz‘ zögerliche Haltung ohnehin gerade nicht gefragt ist bei den Partnern? Beim Gipfel in London war schon optisch zu sehen, dass er im Abseits steht.

Kiesewetter: Es liegt nicht nur an der Situation, sondern auch an Scholz und seiner Persönlichkeit, dass er mittlerweile isoliert ist. Schon als nicht klar absehbar war, dass er die Wahl verlieren wird, hat er sich ausgeklinkt. Bei der Wiedereröffnung von Notre-Dame in Paris haben sich Trump, Selenskyj und Macron getroffen – Scholz hat gar nicht erst versucht, eine Rolle zu spielen. 

Scholz‘ Zögern war keine Besonnenheit, sondern in Wahrheit unterlassene Hilfeleistung für die Ukraine. Deshalb muss es die Aufgabe der neuen Regierung sein, verloren gegangenes Vertrauen bei den Partnern wiederherzustellen.

Merz führt bereits jetzt Gespräche mit anderen Staats- und Regierungschefs. Besteht nicht die Gefahr einer Nebenaußenpolitik, bei der er seine Rolle als Kanzler in spe überreizt, wenn er noch nicht vom Bundestag gewählt wurde?

Kiesewetter: Nein, Merz bereitet sich nur sehr gut vor, um sofort loslegen zu können, nachdem er gewählt wurde. Merz‘ Pensum ist enorm: Er ist in die baltischen Staaten gereist, hat mit Briten und Franzosen gesprochen, er war in Skandinavien. Das kontrastiert nun eben die Versäumnisse von Scholz, der nur wenig in der Nachbarschaft unterwegs war und wenn, dann oft nur spontan und ohne Plan.

„Wichtig, sich im Hintergrund darüber Gedanken zu machen“

Angenommen, die europäischen Ukraine-Verhandlungen kommen voran und man einigt sich auf Friedenstruppen, während in Deutschland noch Koalitionsgespräche laufen. Wer würde dann über den Einsatz der Bundeswehr entscheiden? Gibt Scholz die Linie vor, müsste das schon Merz machen, oder müsste der Bundestag unabhängig von der Kanzlerschaft entscheiden?

Kiesewetter: Zunächst geht es ja gar nicht um Friedenstruppen, sondern um die Frage, wie wir die Ukraine unterstützen können. Wir müssen die Ukraine weiter stärken. Denn wir schützen nicht die Ukraine – die Ukraine schützt uns. Deshalb muss die Ukraine wirksame Waffen erhalten und eine Perspektive für den Beitritt zur europäischen Sicherheitsarchitektur erhalten. Bodentruppen würden der Absicherung eines Waffenstillstands dienen, aber bevor es dazu kommt, muss die Ukraine in eine Position der Stärke gebracht werden. Sonst bekommen wir einen Diktatfrieden, eine Kapitulation.

Wir haben gelernt, dass sich die Lage schneller ändern kann als gedacht. Sollten wir uns nicht jetzt schon viel mehr Gedanken über das Thema Bodentruppen machen?

Kiesewetter: Das politische Ziel ist Frieden in Freiheit und Selbstbestimmung für die Ukraine. Dies muss am Ende mit robusten Truppen gesichert werden. Am effektivsten ist das, wenn die Ukraine in Nato und EU-Strukturen eingebunden ist. Wenn wir an diesen Punkt kommen sollten, müsste Deutschland natürlich Verantwortung übernehmen und mit einem größeren Beitrag mit dabei sein und mitgestalten, statt sich auf humanitäre Hilfe zurückzuziehen. 

Es ist wichtig, sich im Hintergrund über dieses Szenario bereits jetzt Gedanken zu machen, auch weil es dafür einen Aufwuchs bei Fähigkeiten und Personal braucht.

„Merz sollte Deutschland und Europa wieder weltpolitikfähig machen“

Beim Gipfel in London präsentierte sich der britische Premier Keir Starmer als Brückenbauer zu den USA, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron als Verteidiger der Ukraine. Und Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni gibt sich als Trump-Versteherin. Welche Rolle sollte Merz spielen, wenn er in einigen Wochen offiziell in den Kreis der Staats- und Regierungschef stoßen wird?

Kiesewetter: Er sollte Deutschland wieder zu einem verlässlichen Partner in der EU und zum Rückgrat der Nato machen. Wir sollten in der Lage sein, die Verteidigung Europas an der Ostflanke zu übernehmen – auch führend zu übernehmen. Insofern sollte Merz der Kanzler sein, der Deutschland und Europa wieder weltpolitikfähig macht.

Weltpolitik wird möglicherweise auch bedeuten, mit Russlands Präsident Wladimir Putin sprechen zu müssen. Wann sollte Merz ihn anrufen? 

Kiesewetter: Zunächst muss geklärt sein, dass Russland bereit ist, seine Angriffstruppen zurückzuziehen. Putin wurden so viele Zugeständnisse gemacht, dass er es nicht einsieht, nur einen Deut von seinen imperialen Vernichtungsgelüsten abzurücken. Es bringt daher nichts, um Verhandlungen zu betteln. Wir müssen die Ukraine in eine Position der Stärke bringen, damit Putin unter Druck einsieht: Es hat keinen Sinn mehr, weiterzukämpfen.

Welche Punkte sollte die neue Regierung prioritär angehen?

Kiesewetter: Die Rüstungsindustrie muss aktiviert werden. Zweitens braucht es eine Koalition der Willigen zur Unterstützung der Ukraine, von der Deutschland ein Teil sein muss. Und drittens müssen zahlreiche Vorbehalte abgeräumt werden, so dass wir die Ukraine mit allem unterstützen können, was rechtlich zulässig und möglich ist. Das große Ziel muss sein, dass Russland das Existenzrecht seiner Nachbarstaaten anerkennt. 

„Sondervermögen muss in nächsten drei Wochen verabschiedet werden“

Viel wird auch von der Finanzierung abhängen. Wie soll die sichergestellt werden?

Kiesewetter: Es ist richtig, über eine Verstetigung der Verteidigungsausgaben bei mehr als drei Prozent der Wirtschaftsleistung nachzudenken, grundsätzlich brauchen wir angesichts der Bedrohungslage aber eher fünf Prozent. Dabei kann auch ein neues Sondervermögen ein Beitrag sein, das aber sehr rasch innerhalb der nächsten drei Wochen verabschiedet werden muss.

Wie hoch müsste ein Sondervermögen sein? 

Kiesewetter: Um unsere Verpflichtungen bis 2030 zu erfüllen, benötigt es einen zusätzlichen Betrag in Höhe von 300 bis 400 Milliarden Euro. Es braucht zudem eine Verdopplung des Verteidigungshaushaltes auf 120 Milliarden Euro. Das wären sinnvolle Maßnahmen, die durch ein Sondervermögen und durch eine neue Priorisierung der Ausgaben umgesetzt werden können. 

Es würde aber auch helfen, wenn die Europäische Investitionsbank die Rüstungsindustrie finanzieren dürfte. Das ist aufgrund der europäischen Nachhaltigkeitsstandards derzeit nicht zulässig. Auch die EU muss also aktiv werden. Zudem braucht es ebenfalls Investitionen in militärische Mobilität und im Bereich Zivilverteidigung in nicht unerheblicher Höhe.

„CDU-Führung wäre gut beraten, sich auf diesem Feld besser aufzustellen“

Im CDU-Wahlkampf hat das Sondervermögen keine Rolle gespielt. Müsste man sich nicht eingestehen, dass zum Beispiel Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck recht hatte, als er ein Sondervermögen und ein 3,5-Prozent-Ziel gefordert hat?

Kiesewetter: Es rächt sich bitter, dass ein ehrlicher Diskurs darüber nicht stattfand. Entsprechende Vorschläge liegen seit langer Zeit von verschiedenen Personen, auch mir, vor. Ich bin sehr froh, dass endlich die Notwendigkeit erkannt wurde.

Was sollte die CDU daraus lernen?

Kieswetter: Die Frage ist, wie wir künftig innerparteilich mit Vorschlägen zur Krisenprävention und -erkennung umgehen. Die Parteiführung wäre gut beraten, sich auf diesem Feld besser aufzustellen, so wie es früher schon einmal war. Wir sollten uns nicht an öffentliche Debatten anpassen, wie im Wahlkampf in Ostdeutschland im vergangenen Jahr. Das gibt Russland-Verteidigern wie Sahra Wagenknecht Raum und schadet der Union. Die verteidigungspolitische Realität ist den Menschen zumutbar und diese Wahrheit sollten wir uns auch als Partei zu eigen machen.

„Wie Boris Pistorius“: Klügste Köpfe für Ministerien

Welche Fähigkeiten müssen der Verteidigungs- und Außenminister in der neuen Regierung mitbringen?

Kiesewetter: Unabhängig von Personen muss die Wirtschafts- und Finanzpolitik eng mit der Außen- und Verteidigungspolitik und auch mit Innerer Sicherheit abgestimmt werden. Denn wir brauchen integrierte Abschreckung und Gesamtverteidigung. Deshalb ist es wichtig, dass das vom Kanzleramt aus organisiert wird. Hierzu kann man die bestehenden Strukturen wie das Sicherheitskabinett optimieren und mittelfristig einen nationalen Sicherheitsrat einrichten, der koordiniert und Entscheidungen vorbereitet. 

Wir brauchen für das Außen- und Verteidigungsministerium die klügsten Köpfe. Sie müssen bestmöglich vernetzt und international erfahren sein, wie es zum Beispiel Boris Pistorius ist. 

Wer neben Pistorius würde diese Eigenschaften mitbringen?

Kiesewetter: Das sieht man, wenn man sich öffentliche Aufsätze und Beiträge aus der Politik anschaut. Ich beteilige mich aber nicht an personellen Spekulationen. Das ist eine Sache des Bundeskanzlers und der Parteivorsitzenden.