Frauen besonders betroffen: Warum MS in Nordafrika zunehmend zur Herausforderung wird

Multiple Sklerose (MS), eine chronische Erkrankung des Nervensystems, galt lange Zeit als selten in Nordafrika. Doch neue Studien und internationale Register zeigen: Die Zahl der Betroffenen steigt deutlich – mit weitreichenden Folgen für Patient*innen, Gesundheitssysteme und Gesellschaft.

Dr. med. Mimoun Azizi ist Chefarzt des Zentrums für Geriatrie und Neurogeriatrie im KVSW und Facharzt für Neurologie. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.

Rasanter Anstieg der Fälle

Während ältere Untersuchungen in Ländern wie Ägypten oder Libyen noch von niedrigen Erkrankungsraten ausgingen, berichten aktuelle Analysen aus Tunesien und Algerien von deutlich höheren Prävalenzen, die sich europäischen Zahlen annähern.

So schätzt eine tunesische Studie die landesweite Zahl der Erkrankten auf rund 58 pro 100.000 Einwohner – dreimal so hoch wie noch vor 20 Jahren.

In Algerien meldete eine Forschergruppe auf dem europäischen MS-Kongress ECTRIMS für die Region Tlemcen eine Prävalenz von über 40 pro 100.000.

Ursachen: Zwischen Diagnosefortschritt und Lebensstil

Der starke Anstieg wird von Fachleuten nicht allein auf verbesserte Diagnostik zurückgeführt – obwohl moderne MRT-Technik in städtischen Regionen mittlerweile besser verfügbar ist.

Auch Umwelt- und Lebensstilfaktoren scheinen eine Rolle zu spielen:

  1. Vitamin-D-Mangel, trotz hoher Sonneneinstrahlung
  2. Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV)
  3. Genetische Besonderheiten, etwa bestimmte HLA-Merkmale in nordafrikanischen Bevölkerungen (vgl. Multiple Sclerosis Journal)

Frauen besonders betroffen

Wie weltweit sind auch in Nordafrika Frauen doppelt so häufig betroffen wie Männer. Besonders besorgniserregend: Einige nordafrikanische Kohortenstudien berichten von einem schnelleren Krankheitsverlauf, was zu einer früheren Behinderung führt.

Große Hürden bei der Behandlung

Ein zentrales Problem ist der unzureichende Zugang zu modernen Therapien.

Laut dem Atlas of MS (MS International Federation, 2020) ist die Verfügbarkeit verlaufsmodifizierender Medikamentein vielen nordafrikanischen Ländern stark eingeschränkt – oder für die meisten finanziell nicht leistbar.

Stattdessen greifen Ärzt*innen häufig zu älteren Präparaten wie Interferonen oder kostengünstigen Immunsuppressiva.

Soziale Belastung und fehlende Unterstützung

Neben medizinischen Problemen wirkt sich MS auch stark auf das soziale und wirtschaftliche Leben der Betroffenen aus.

Symptome wie Fatigue und Depressionen sind weit verbreitet. Eine algerische Kostenstudie (2025) zeigt: Medikamente verursachen den größten Teil der Krankheitskosten – eine enorme Belastung für Patient*innen und ihre Familien.

Experten fordern nationale Register

Um die Versorgung zu verbessern, fordern Fachleute die Einrichtung nationaler MS-Register in allen nordafrikanischen Ländern. Nur so lassen sich:

  1. die tatsächliche Zahl der Betroffenen erfassen,
  2. Versorgungsstrukturen aufbauen
  3. und der Zugang zu moderner Therapie gezielt steuern.

Zudem seien Aufklärungskampagnen nötig, um die häufig jahrelangen Diagnoseverzögerungen zu verkürzen.

Fazit

Die wachsende Zahl an MS-Fällen zeigt: Multiple Sklerose ist längst kein Randphänomen mehr in Nordafrika.

Die Region steht vor einer doppelten Herausforderung:

  1. Ursachenforschung intensivieren
  2. Versorgungslage spürbar verbessern

Ohne gezielte politische Strategien und Investitionen droht die stille Epidemie zu einer massiven sozialen und gesundheitlichen Belastung zu werden.