Diagnose mit über 50 - Später Schock: Warum Multiple Sklerose auch Senioren trifft

Die Rolle des Immunsystems

Das Immunsystem wird im Laufe des Lebens durch Infektionen und Umwelteinflüsse trainiert. Es ist lernfähig und entwickelt Mechanismen der Abwehr, um den menschlichen Organismus vor Schaden zu bewahren. Das ist die Ursache dafür, dass Menschen älter werden können. Dennoch verliert das Immunsystem im Alter seine Durchschlagskraft.

Das angeborene und das adaptive Immunsystem verändern sich im Alter. Das zeigt sich in einer deutlich verminderten Regenerationsfähigkeit und in einem Anstieg chronischer Entzündungen – man spricht hier von „Inflamm-Aging“. Die gestörte bzw. geminderte Regenerationsfähigkeit und das „Inflamm-Aging“ spielen eine signifikante Rolle im Alter bei der Entstehung entzündlicher Prozesse des Zentralen Nervensystems (ZNS), wie der Multiplen Sklerose. 

Die geschwächte Immunkompetenz im Alter (Immunoseneszenz) führt zur Abnahme von protektiven T-Zellen und zu einer Zunahme von zytotoxischen T-Zellen. Dazu kommt ein Anstieg an Zytokin-Ausschüttung. Diese Konstellation kann zu einer chronischen Entzündung im zentralen Nervensystem im Alter führen.

Auf der anderen Seite zeigt sich eine deutlich reduzierte Regenerationsfähigkeit neuronaler Zellen im Alter, und somit auch eine deutlich verminderte Remyelinisierung. Auch im Hinblick auf den Behinderungsgrad zeigt sich hier konsekutiv eine schnellere Progression als bei Betroffenen in jüngeren Jahren. 

Welche spezifischen Herausforderungen können ältere Menschen mit MS erleben, die sich von denen jüngerer Patienten unterscheiden?

Die Multiple Sklerose stellt bei älteren Menschen eine besondere Herausforderung dar, da sie oft mit anderen Erkrankungen einhergeht. Bei neu auftretenden neurologischen Ausfällen müssen wir daher auch an andere Krankheiten denken. Gangstörungen, Koordinationsstörungen, Sensibilitätsstörungen und Gedächtnisstörungen können im Rahmen von anderen Erkrankungen wie Schlaganfällen und Demenzen oder bei psychischen Erkrankungen wie Depressionen und dissoziativen Störungen auftreten.

Auch Blasenstörungen können durch Prostataerkrankungen verursacht werden. Zudem kann die Krankheit schneller zur Pflegebedürftigkeit führen. Viele Betroffene leiden unter depressiven Symptomen wie Antriebsarmut, Kraftlosigkeit, Müdigkeit, Stimmungsschwankungen, innerer Leere und Schlafstörungen. Diese Symptome beeinträchtigen die Lebensqualität erheblich und können durch die MS-Erkrankung verstärkt werden.

Ältere Menschen sind oft körperlich eingeschränkt und sozial isoliert, was durch zusätzliche Erkrankungen wie kardiovaskuläre Krankheiten noch verschärft wird. Ein weiterer Aspekt betrifft die nichtmedikamentöse Therapie. Ergotherapie und Physiotherapie sind wichtige Bestandteile der symptomatischen Behandlung von MS. Im Alter können diese Angebote jedoch aufgrund von Einschränkungen und ländlichen Strukturen oft nicht wahrgenommen werden. Die Betroffenen sind darauf angewiesen, dass Therapeuten zu ihnen nach Hause kommen oder sie zu den Therapeuten gebracht werden - beides ist oft nicht möglich. Dies führt zu Nachteilen in der Behandlung älterer Menschen mit MS, die bei jüngeren Patienten in diesem Ausmaß nicht existieren.

Therapieoptionen

Die Behandlung älterer Menschen mit Multipler Sklerose stellt eine besondere Herausforderung dar, da das Immunsystem im Alter anfälliger für Infektionen ist und daher bei der Anwendung von Medikamenten wie Cortison besondere Vorsicht geboten ist. Zudem fehlen uns Daten zur Wirksamkeit moderner MS-Therapien ab dem 60. Lebensjahr, da diese Altersgruppe in den Zulassungsstudien selten berücksichtigt wurde.

Trotzdem wird auch im höheren Alter therapiert, basierend auf Erfahrungen oder intuitiv, da moderne MS-Therapien Schübe verhindern und somit die Progression einer durch Schübe verursachten Behinderung verlangsamen können. Es ist bekannt, dass hocheffektive Therapien im Alter die Progression verzögern können. Daher wird empfohlen, so früh wie möglich mit der Therapie zu beginnen. Die Dauer der Therapie und der Zeitpunkt ihres Abbruchs müssen jedoch individuell bewertet werden, da es kaum Studien dazu gibt. Sollte die Therapie abgesetzt werden, sind engmaschige neurologische Kontrollen unerlässlich. 

Ältere Menschen mit MS profitieren zudem von einer multimodalen Therapie, die unter anderem Physiotherapie, Ergotherapie sowie modernere Verfahren wie transkranielle Magnetstimulation, Virtual-Reality-Technologien und robotergestützte Gehtherapie umfasst. Das Ziel dieser Therapien ist es, Schübe zu verhindern und die Progression der Behinderung zu verlangsamen. Während Schübe relativ gut behandelt werden können, führt jede erfolgreiche Therapie eines Schubes nicht zu einer vollständigen Remission. Stattdessen bleiben nach jedem Schub Restdefizite zurück, wie zum Beispiel eine leichte Zunahme kognitiver Beeinträchtigungen.

Die aktuellen Therapien können MS nicht heilen, aber sie können den Krankheitsprozess verlangsamen und den Betroffenen eine gute Lebensqualität ermöglichen. Es ist wichtig zu betonen, dass je mehr Schübe auftreten, desto mehr bleibende Defizite entstehen und desto schneller schreitet die Krankheit in Bezug auf den Grad der Beeinträchtigungen und möglichen Behinderungen voran.

Ratschläge für ältere Menschen mit MS zur Verbesserung der Lebensqualität

Für Menschen, die mit Multipler Sklerose alt werden, gibt es viele Möglichkeiten, um Vorkehrungen zu treffen und ihre Lebensqualität zu verbessern. Eine Möglichkeit könnte im beruflichen Bereich liegen, wo ein Berufswechsel sowohl hilfreich als auch existenzsichernd sein kann. Eine frühzeitige Behandlung der Erkrankung ist ebenso wichtig und kann durch verschiedene Therapien ergänzt werden. Sport, Physiotherapie und Schwimmen sind einige Beispiele für Aktivitäten, die das Immunsystem stärken können. Eine gesunde Ernährung spielt ebenfalls eine wesentliche Rolle bei der Stärkung des Immunsystems.

Es ist auch wichtig, familiäre Strukturen entsprechend aufzubauen und Umbauten im Wohnbereich vorzunehmen. Dies ermöglicht es den Betroffenen, trotz der Progression der Erkrankung, in ihrem häuslichen Umfeld weiterleben zu können. Mit der Zeit lernen viele Menschen mit MS, mit ihrer Erkrankung umzugehen. Dies betrifft nicht nur sie selbst, sondern auch ihr Umfeld. Insgesamt führt dies zur Aufrechterhaltung der Teilhabe am Leben und zu einer entsprechenden Lebensqualität.

Die Art und Weise, wie man sich auf das Altwerden mit MS vorbereitet, hängt natürlich von der spezifischen Form der MS ab. Wenn die Erkrankung bereits in jungen Jahren manifest wird, kann man sich darauf vorbereiten. Wenn sie jedoch erst im Alter auftritt, kann die Situation für die Betroffenen sehr schwierig sein. In solchen Fällen ist Aufklärung erforderlich sowie der Aufbau von neuen und altersgerechten Anlaufstellen und Studien.