„Beim Bier verdrehen alle die Augen“ - „Völlig illusorisch“: Der leise Aufstand der Stadtwerke gegen die Klimaziele

Nicht nur die politische Brandmauer zur AfD scheint zu bröckeln. Auch das deutsche Klimaneutralitätsziel für 2045, das immerhin auf den Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts zurückgeht, steht unter Beschuss. 

Die FDP würde es laut ihrem Wahlprogramm gern durch das europäische 2050-Klimaziel ersetzen. Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger, der mit seinen Freien Wählern in den Bundestag einziehen will, möchte Klimaziele genau wie die AfD am liebsten ganz einmotten. Und Siegfried Russwurm, bis Ende 2024 Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), sagte, „die Zieljahre sind nicht in Stein gemeißelt“.

Nun wächst auch unter Stadtwerken die Unterstützung dafür, das deutsche Klimaziel auf 2050 zu verschieben. Über 900 Stadtwerke kümmern sich in Deutschland um Energie, Wasser, Mobilität oder schnelles Internet. Sie gelten als zentrale Akteure der Energiewende, da sie vor Ort, also in den Regionen, Städten und Kommunen unter anderem Stromnetze zubauen oder Haushalte mit Fernwärme versorgen.

Mit ihrer Kundennähe sind Stadtwerke entscheidend, um Erneuerbare auf lokaler Ebene einzubinden. „Ohne Stadtwerke keine Energiewende“, heißt es etwa beim Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). 

„Beim Bier verdrehen alle die Augen“ 

Doch hinter vorgehaltener Hand hadern viele in der Branche mit der Dekarbonisierung. „Alle wissen, dass das 2045-Ziel völlig illusorisch ist“, sagt etwa der Geschäftsführer eines Stadtwerks und mittelständischen Energieversorgers, das 80.000 Menschen mit Energie und Wasser versorgt. Die „politische Gemengelage“ sei aber noch nicht reif, „also bleiben alle still“.

Auch er hält sich aus strategischen Gründen zurück. Schließlich müsse er sein Fernwärmenetz ausbauen und dürfe keine Zweifel streuen, „sonst kommen wir gar nicht mehr vorwärts“. Dem Stadtrat – Stadtwerke gehören mehrheitlich ihren Kommunen – sage er daher, „wir haben einen Plan, starke Partner, ein Ziel und wir schaffen das“.  

Auch bei anderen Stadtwerken mache man „gute Miene zum bösen Spiel. Aber abends beim Bier verdrehen alle die Augen“. Sein Wunsch: „Die Politik sollte endlich transparent machen, dass 2045 nicht klappt, und das deutsche Klimaziel auf 2050 verschieben.“  

Aus seiner Sicht würde das den Bürgern Druck und Verunsicherung nehmen. „Wir erleben jeden Tag, dass eine Gasheizung kaputtgeht und der Eigentümer nicht weiß, wie es weitergeht.“ Aus Panik kaufe der eine Wärmepumpe – auch wenn der Fernwärmeanschluss für ihn viel günstiger wäre. „Nur wann der kommt, das können wir nicht sagen“, so der Geschäftsführer. Er könne wegen fehlender Kapazitäten nur vier Kilometer Leitungen pro Jahr zubauen. „Aber wir bräuchten pro Jahr sechs, um das Klimaziel 2045 zu schaffen“. 

Es mangelt an vielem

Auch Anton Berger, Partner der Beratungsgesellschaft Rödl & Partner, bestätigt die Stimmungslage in der Branche. Der Ökonom berät Stadtwerke und sagt „es würde wohl kaum einer ‚Nein‘ zu einer Verschiebung des Klimaziels sagen, auch wenn das die Transformation verlangsamen dürfte“. Es brauche mehr Ressourcen, wie Baufirmen. Die aktuelle Knappheit verteuere den Umbau für Stadtwerke. „Etwas mehr Zeit würde sicher auch finanziellen Druck rausnehmen“, so Berger. 

Es scheint derzeit an vielem zu mangeln, so verlautet es auch aus anderen Stadtwerke-Führungsetagen. An Stromnetzen, Speichern, Fachkräften für Tiefbau, Monteuren, Baggern, Finanzierung.

„Das bringt doch nichts außer Frust“

Allein bis 2030 sind laut einer Studie des BDEW und der Beratung EY 721 Milliarden Euro an Energiewende-Investitionen nötig. Auch danach braucht es gigantische Investitionen. „Realistisch glaubt kaum einer, dass wir in Deutschland 2045 oder auf Landesebene 2040 klimaneutral sind. Eine Verschiebung auf 2050 wäre daher sinnvoll, um mehr Zeit zu haben, die gewaltigen Investitionen zu refinanzieren. Gerade angesichts des Fachkräftemangels“, sagt der Stadtwerke-Geschäftsführer einer Baden-Württembergischen Großstadt, wo man offiziell schon 2040 klimaneutral sein will.  

Er findet es falsch, „an einem unrealistischen Ziel“ festzuhalten. „Das bringt doch nichts außer Frust und erhöht das Misstrauen in die Politik.“ Die Abkehr der USA vom Pariser Klimaabkommen werde den politischen Diskurs in Europa ohnehin verändern.

Tempo rausnehmen oder ambitioniert bleiben?

Noch deutlicher und ohne auf Anonymität zu pochen, äußert sich Karl-Peter Hoffmann, Geschäftsführer der Stadtwerke Sindelfingen. „Wir sollten das deutsche Klimaziel zeitlich verschieben − oder uns gleich von einem festen Enddatum verabschieden. Denn auch 2050 werden wir bei realistischer Betrachtung nicht klimaneutral sein, jedenfalls nicht, ohne die Bevölkerung in die Arme von Populisten zu treiben oder unsere Industrie zu Grunde zu richten.“  

Eine Position, die sich inzwischen in breiten Kreisen von Politik und Wirtschaft wiederfindet. Auch Holger Lösch, stellvertretender BDI-Hauptgeschäftsführer, warnte erst kürzlich in einem Interview mit Table.Briefings davor, dass die deutsche Klimapolitik in die Deindustrialisierung führe. Also lieber Tempo rausnehmen, statt einem fernen Ziel nachzujagen – oder sich erst recht anstrengen, um wenigstens in Zielnähe zu bleiben?  

Scheitern am Horizont

Laut Projektionen des Umweltbundesamts (UBA) ist das Ziel der Netto-Treibhausgasneutralität im Jahr 2045 mit derzeitigen Klimaschutzinstrumenten jedenfalls nicht erreichbar. Und auch der Verband kommunaler Unternehmen (VKU) gelangt in einer Studie zu dem Schluss, dass auf EU-Ebene das Ziel einer 55-prozentigen CO₂-Reduktion bis 2030 anhand aktueller Emissionsprognosen der EU-Mitgliedstaaten „voraussichtlich“ scheitern werde. Der Verband warnt daher davor, die Klimaziele weiter zu verschärfen, bekennt sich aber immerhin auf Nachfrage „zum gesetzlichen Ziel der Klimaneutralität bis 2045 für Deutschland“.  

Weniger deutlich positioniert sich der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), der auch große Energieversorger vertritt. „Der Energiesektor richtet sich auf dieses Ziel aus, viele Investitionen sind mit Blick auf das Neutralitätsziel 2045 getätigt worden und wollen weiter getätigt werden. […] Aber wir erkennen auch die Notwendigkeit, Pragmatismus und ambitionierte Machbarkeit walten zu lassen“, heißt es von Hauptgeschäftsführerin Kerstin Andreae. 

„Zu verschieben wäre eine Alibi-Aktion“ 

Dabei spricht einiges dagegen, die Dekarbonisierung zu verschieben. Dabei angefangen, dass sich Deutschland nicht so einfach über EU-Recht hinwegsetzen könnte. Und auch in der Branche gibt es Stimmen, die davor warnen, jetzt in eine Klimazieldiskussion einzusteigen.  

„Das wäre doch nur eine Alibi-Aktion“, sagt etwa Thomas Gebhart, Vorstandsvorsitzender der Stadtwerke Saarbrücken. Auch er glaubt nicht mehr an das 2045-Ziel, will aber trotzdem daran festhalten. „Verschiebt man einmal, verschiebt man immer wieder“.

Dabei sei Planbarkeit unerlässlich. „Selbst wenn wir es nicht ganz schaffen, haben wir doch klar vor Augen, dass wir Mitte des Jahrhunderts kaum mehr Fossile verfeuern dürfen“. Auch Johannes Rager, Geschäftsführer der Stadtwerke Ludwigsburg-Kornwestheim, will bei 2045 bleiben, obwohl auch er bestätigt, dass die meisten seiner Kollegen lieber verschieben würden. Er befürchtet, dass „wir sonst nochmal fünf bis zehn Jahre länger brauchen. Der Klimawandel wartet aber nicht“.

Von Anna Gauto