„Eher ein Lückenfüller“ - Warum selbst die Kernfusion keine Chance gegen Solar und Wind hat
Das Potenzial ist riesig. Auch unsere Sonne ist im Prinzip nichts anderes als ein gigantischer Kernfusionsreaktor: In ihrem Inneren werden Wasserstoffkerne miteinander zu einem Heliumkern verschmolzen. Weil der einzelne Heliumkern leichter ist als die beiden Wasserstoffkerne, setzt der Prozess Energie frei. Mit der Kernfusion könnten wir also die Macht der Sonne zu uns auf die Erde holen.
„Extreme Bedingungen“
Und das vielleicht schon in zehn Jahren? Wie realistisch ist der Traum von der schnellen Kernfusion? Das Büro für Technikfolgen-Abschätzung im Deutschen Bundestag (TAB) ist dieser Frage jetzt in einer neuen Studie nachgegangen - und tritt ein wenig auf die Bremse. Das TAB ist eine unabhängige wissenschaftliche Einrichtung, die den Bundestag in wichtigen Fragen des technischen Fortschritts erwähnt. Unter Fachpolitikern gilt das TAB als ideologiefrei und fundiert, seine Einschätzungen haben bei den Parlamentariern Gewicht.
Die am Donnerstag erschienene Studie, die FOCUS online Earth vorab einsehen konnte, zeichnet ein differenziertes Bild. Denn die Herausforderungen sind groß, wie der Bericht darstellt:
- Die gesamte Energiebilanz des Verfahrens ist trotz des Forschungsdurchbruchs von 2022 nach wie vor negativ.
- Teile des Kraftwerks müssten „extremen Bedingungen widerstehen, vergleichbar mit denen auf der Sonnenoberfläche.“
- Die Erschließung der notwendigen Ressourcen, etwa des seltenen Brennstoffes Tritiums, sei „schwierig“.
- Der Bau solcher Kraftwerke wäre also enorm teuer, das TAB spricht von einem „hohen Investitionsbedarf und langer Kapitalbindung“. Vermutlich werde hier der Staat in die Bresche springen müssen, vermutet die Studie.
Die in den letzten Jahren - auch in Deutschland - aus dem Boden geschossenen Fusions-Startups versprechen oft, bereits in acht bis zehn Jahren den ersten Strom einspeisen zu können. Unrealistisch, kritisieren die Autorinnen und Autoren der Studie: „Zentrale technische Herausforderungen werden dabei oft ausgeblendet.“
Harte Konkurrenz
Frühestens Mitte des Jahrhunderts werden die ersten kommerziellen Reaktoren an den Start gehen, schlussfolgern die Forscherinnen und Forscher des TAB hingegen, und das auch nur im besten Falle. Bis dahin gebe es noch „einen hohen Forschungs- und Entwicklungsbedarf.“
Für den Traum von der atombetriebenen Strom-Revolution ist das eine schlechte Nachricht. Denn in den 2050er-Jahren wird die Menschheit ihr Energie-Problem vermutlich schon gelöst haben: Mit Solar und Wind. Bereits jetzt generiert Deutschland circa 60 Prozent seines Stroms aus Erneuerbaren Energien, die gesamte EU will bis 2050 klimaneutral sein. Dafür muss der Anteil von Solar und Wind am Energiemix noch einmal deutlich steigen.
Nach aktuellen Daten des Fraunhofer-Instituts können PV-Anlagen und Windkraftanlagen an Land im günstigsten Fall bereits für weniger als fünf Cent pro Kilowattstunde Strom produzieren. Den technischen Fortschritt der kommenden 25 Jahre mitgedacht, wird es für die Kernfusion schwer, da noch preislich mithalten zu können, schlussfolgert der TAB-Bericht - geschweige denn zu dominieren.
„Können gut mit den Erneuerbaren zusammenspielen“
Ein Dauerbetrieb der Anlagen sei eher unwahrscheinlich, sagt Patrick Jochem, Experte für Energiesysteme am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) sowie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). „Es wird aus ökonomischen Gründen eher ein ‚Lückenfüller-Betrieb‘ stattfinden müssen. Diese Betriebsweise wird aber aus heutiger Sicht für eine Kombination aus Speichertechnologien und wasserstoffbetriebenen Gasturbinen kostengünstiger zu erzielen sein.“
Und auch führende deutsche Vertreter der Fusionsforschung glauben: Die Kernfusion werde eher eine Ergänzung sein und kein Ersatz. „Fusionskraftwerke können in einem künftigen Strommarkt sehr gut und sinnvoll mit den Erneuerbaren zusammenspielen“, sagt Sibylle Günther, Wissenschaftliche Direktorin am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching bei München. „Ihre Leistung ist bei Bedarf regelbar.“ Das hätten Untersuchungen zusammen mit der Technischen Universität (TU) München gezeigt.
Weniger optimistisch gibt sich Christian Linsmeier, Direktor des Institute of Fusion Energy and Nuclear Waste Management am Forschungszentrum Jülich in Nordrhein-Westfalen. „In Deutschland gibt es die sehr spezielle Sichtweise, dass Wind und Sonne für einen überwiegenden Teil der Stromproduktion genutzt werden sollen“, sagt Linsmeier. „In diesem Fall braucht man zur Ergänzung schnell regelbare Kraftwerke. Kernfusionskraftwerke könnten das nur begrenzt leisten.“ Weil der Bau eines Kraftwerks eine große Investition darstelle, müsse es aus Gründen der Wirtschaftlichkeit aber so viel Strom wie möglich produzieren.
Unklare Zukunft
Fusions-Experten bringen daher eine weitere Nutzung der Technologie ins Spiel, abseits des Strommarkts. „In Fusionskraftwerken entstehen sehr hohe Temperaturen von etwa 700 Grad Celsius“, sagt Linsmeier. „Man könnte diese Temperaturen einerseits als Prozesswärme für die Industrie nutzen, die heute meist fossil erzeugt wird. Andererseits könnte man mit den Temperaturen auch Wasserstoff erzeugen.“ Denkbar sei auch, ergänzt Günther, „die Energie zu nutzen, um CO2 aus der Luft abzuscheiden und Meerwasserentsalzungsanlagen zu betreiben.“
Und ohnehin gilt: Das Energiesystem der Zukunft lässt sich nur schwer vorhersagen. Den Siegeszug der Erneuerbaren Energien sahen vor 25 Jahren auch nur die wenigsten kommen. „Beispielsweise warnen Technologiekonzerne vor dem gigantischen Energiebedarf durch die Nutzung künstlicher Intelligenz“, sagt Günther. Je höher der Strombedarf, desto leichter hat es auch die Kernfusion. Und, fügt die Physikerin hinzu: „Wie schnell energiepolitische Gewissheiten manchmal über den Haufen geworfen werden müssen, hat uns gerade der Ukraine-Krieg gezeigt.“
Ohnehin haben Windräder in der Regel nach 20 bis 30 Jahren das Ende ihrer Lebensdauer erreicht. Vielleicht wird also der Traum von Friedrich Merz wahr - und zumindest das ein oder andere „hässliche“ Exemplar wird von der Kernfusion ersetzt.
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