Habemus Kanzler Merz: Die verheerenden Folgen des zweiten Wahlgangs
Friedrich Merz: Historische Kanzlerwahl ohne Mehrheit
In den 23 bisherigen Kanzlerwahlen in der Geschichte der Bundesrepublik gelang es den Kanzlerkandidaten immer im ersten Wahlgang, die notwendige Kanzlermehrheit, also die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, hinter sich zu bringen. Bei der gestrigen, historischen 24. Kanzlerwahl gelang dies Friedrich Merz am Vormittag nicht, so dass er am Nachmittag in einem zweiten Wahlgang nachsitzen musste.
Pikant war zudem Folgendes: Um die zweite Abstimmung noch am selben Tag durchzuziehen, schmiss man schnell die Brandmauer nach links über Bord und holte sich die notwendige Zustimmung der Linken ein, die nach der Geschäftsordnung für eine Abstimmung am selben Tag notwendig war.
Über Uwe Wagschal
Uwe Wagschal (geb. 1966) ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Freiburg. Nach seinem Studium der Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre (Abschluss als Dipl.-Vw.) in Heidelberg promovierte er dort 1996. Später war er Professor an der LMU München und der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Direkten Demokratie, Wahlen und den Öffentlichen Finanzen. Er übernahm Lehrtätigkeiten für verschiedene Universitäten, darunter WU Wien, Zürich, Sankt Gallen und Harvard.
Abweichler in der Geschichte der Kanzlerwahlen
Knappe Kanzlerwahlen und die Verweigerung der Gefolgschaft aus den eigenen Reihen waren jedoch nicht selten. Bei der ersten Kanzlerwahl 1949 wurde Konrad Adenauer mit einer Stimme Mehrheit, seiner eigenen, gewählt und es gab sechs Abweichler aus den eigenen Reihen. 1961 gaben ihm sogar 51 Abgeordnete der Union und FDP nicht ihre Stimme.
Bei der Wahl von Kurt Georg Kiesinger 1966 als Kanzler der ersten Großen Koalition gab es mindestens 107 Abweichler aus den eigenen Fraktionen, die meisten von der SPD, die Kiesinger wegen seiner Vergangenheit im Nationalsozialismus ablehnten.
Auch Angela Merkel musste bei der zweiten Großen Koalition 2005 immerhin noch 51 Abweichler in Kauf nehmen. Selbst die dritte und vierte Große Koalition hatte mit 42 und 35 Verweigerern mehr interne Opposition als Friedrich Merz am Dienstag.
Dennoch zeugen die mindestens 18 Abweichler von einem Grundproblem des Regierungshandelns: Die Regierung hat keine verlässliche Kanzlermehrheit. Gerade bei den aktuell knappen Mehrheitsverhältnissen fehlt damit die Verlässlichkeit, die es braucht, um die notwendigen harten Reformen durchzusetzen. Bemerkenswert ist zudem, dass es Gerhard Schröder 1998 als einzigem Kanzler bisher gelang, mehr Stimmen bei einer Kanzlerwahl auf sich zu vereinigen, als Rot-Grün seinerzeit in ihren Fraktionen an Abgeordneten hatte.
Ursachenforschung: Woher kamen die Abweichler?
Die spannende, aber auch spekulative Frage ist: Woher kamen die 18 Abweichler? Kanzler Merz möchte dem zwar „nicht nachforschen“, sagte er am Dienstagabend im Interview. Dennoch sollte ihn das für die Zukunft seiner Regierung interessieren.
Im Vorfeld der Kanzlerwahl war in den einzelnen Gremien der Parteien die Zustimmung zum Koalitionsvertrag unterschiedlich. Während die CSU im Vorstand einstimmig dem Vertrag zustimmte und die CDU auf einem kleinen Parteitag – ohne Veröffentlichung der Mehrheitsverhältnisse – mit „großer Mehrheit“ grünes Licht gab, rumorte es bei den Sozialdemokraten. Die Jusos machten massiv Front gegen den Koalitionsvertrag, insbesondere der Juso-Vorsitzende Thürmer, aber auch verschiedene Landespolitiker zeigten sich skeptisch.
Sicherlich hatte der polarisierende Wahlkampf hier auch seine Spuren hinterlassen. Im Zusammenspiel mit der geringen Wahlbeteiligung der SPD-Mitglieder bei der Koalitionsvertragsabstimmung deutet doch vieles auf eine hohe Unzufriedenheit in den Reihen der Genossen hin.
Vergangene Verweigerungen und aktuelle Rückschläge
Hinzu kommen die vergangenen Zustimmungsverweigerungen bei den vorangegangenen vier Großen Koalitionen, die zumeist von der SPD kamen. Die genaue Verteilung dieser abweichenden Stimmen zwischen CDU/CSU und SPD ist zwar nicht bekannt, da die Abstimmungen geheim waren und sind. Jedoch gab es immer mehr kritische Stimmen aus der SPD gegen Große Koalitionen als aus der Union, etwa 2005 prominent von Ralf Stegner, aber auch bei den späteren GroKos von Andrea Nahles oder von Kevin Kühnert in seiner Funktion als Juso-Bundesvorsitzender.
Ein Blick auf die Bundesländerebene zeigt zudem, dass es oft die SPD war, die auch ihr eigenes Führungspersonal in entscheidenden Momenten im Stich ließ. So scheiterte Heide Simonis 2005 in Schleswig-Holstein in vier Wahlgängen an ihrer Unterstützungskoalition. Das geflügelte Wort vom Heide-Mörder ging um. 2008 scheiterte Andrea Ypsilanti in Hessen bei ihrem Versuch, Ministerpräsidentin zu werden an mindestens vier Abweichlern aus den eigenen Reihen.
Am wahrscheinlichsten dürfte sich somit folgendes Szenario gestern abgespielt haben: Neben einigen Abweichlern aus Unionsreihen waren es wohl überwiegend SPD-Abgeordnete, die sich Merz im ersten Wahlgang verweigerten.
Politische Instabilität und innenpolitische Unsicherheit
Die innen- und außenpolitischen Signale dieser Entscheidung sind jedoch desaströs. Anstatt geschlossen und mit Schwung in die Legislatur zu starten, waren blankes Entsetzen, Krisensitzungen und Beschwichtigungen gestern zu sehen und zu hören. Die Nichtwahl einer Regierung ist überdies ein klares Zeichen für politische Instabilität. Das kurzzeitige Beben an den Finanzmärkten aufgrund dieser Unsicherheit war laut und deutlich zu hören.
Die Verlässlichkeit der Kanzlermehrheit steht damit auch für den Rest der Legislaturperiode immer in Frage und Zweifel. Das Regierungshandeln wird insgesamt nicht leichter. Bedenkt man außerdem, dass im Bundesrat nur vier Bundesländer identische Zusammensetzungen mit der Bundesregierung haben (Hessen, Sachsen, Berlin und im Saarland eine SPD-Alleinregierung), bedeutet dies eine permanente Kompromissfindung auch mit der Opposition, vor allem den Grünen.
Neben internen Kompromissen im Bundestag regiert die Opposition ein Stück weit mit. Das hatte sich ja schon bei der Lockerung der Schuldenbremse, die ohne die Zustimmung der Grünen nicht möglich gewesen wäre, abgezeichnet.
Aber nicht nur Merz ist beschädigt, sondern auch der Vizekanzler Lars Klingbeil. Wenn tatsächlich die meisten Abweichler von der SPD kommen, dann zeigt sich, dass er seinen Laden nicht im Griff hat. Gefolgschaft sicherzustellen war seine Hauptaufgabe vor der Wahl, nicht zuletzt auch wegen des guten Verhandlungsergebnisses im Koalitionsvertrag, der Verteilung der Ministerien und der Zahl der Minister. Hier hat er nicht geliefert.
Stärkung der AfD und Schwächung der Mitte
Besonders freuen durfte sich aber gestern die AfD. Das Bild der politischen Mitte und ihr Anspruch, die AfD politisch zu bekämpfen, wurde durch die sichtbare Uneinigkeit der Regierungskoalition beschädigt. Für die feixenden AfD-Abgeordneten im Plenarsaal war das ein gemachter Tag. Am Ende stimmte sogar die AfD mit den anderen Parteien für die Durchführung des zweiten Wahlganges. Die Brandmauer mutierte zu einer Gartenmauer.
Außenpolitische Konsequenzen und der europäische Kontext
Außenpolitisch durften sich gestern alle freuen, die auf ein schwaches Deutschland setzen. Wenn die Regierung nicht mal eine eigene Mehrheit herstellen kann, wie will sie einen Führungsanspruch in Europa untermauern?
Bereits im vergangenen Jahr hat sich der französische Präsident Macron mit der unnötigen vorzeitigen Neuwahl selbst geschwächt und jetzt Deutschland und Merz. Der Hang zum politischen Masochismus scheint zum Trend in Europa zu werden.
Neue Machtverhältnisse in Europa
Der neue starke Mann in Europa ist damit aktuell eine Frau: Gioriga Meloni die italienische Ministerpräsidentin, die mit Stabilität und guten Wirtschaftsdaten glänzt. Dass Meloni an der Spitze der Rechtspopulisten „Fratelli (Brüder) d’Italia“ steht, macht die Sache für die traditionelle europäische Achse zwischen Frankreich und Deutschland nicht leichter.
Und auch aus Polen kommen Stimmen, die keine starke deutsch-französische Achse mehr wollen. Wie Merz heute in Paris und Warschau, seinen ersten Auslandsreisen und Antrittsbesuchen, seine außenpolitischen Ambitionen formulieren wird, bleibt abzuwarten.
Fazit: Ein Fehlstart mit Konsequenzen
Der Start der neuen Regierungsmannschaft ging also schief, was die überwiegend guten Kritiken der neuen Minister der Union und der SPD in den Hintergrund treten lässt. Der „Schuss vor den Bug“ sollte zumindest eines klargemacht haben: Die Regierung muss Resultate liefern, um die Zustimmung der Bevölkerung zurückzugewinnen.