Sozialforscher Andreas Herteux: Warum die AfD-Einstufung kein Alibi für schlechte Politik werden darf

Die Einstufung der Alternative für Deutschland (AfD) als gesichert rechtsextrem sowie deren Folgen wird voraussichtlich einen tiefgreifenden Einfluss auf die künftige gesellschaftliche und politische Entwicklung in Deutschland nehmen. Die Konsequenzen sind schwer kalkulierbar und könnten den demokratischen Niedergang eher beschleunigen, statt notwendige Diskurse wiederherzustellen oder Wählergruppen zu erreichen, die längst neue Normalitäten für sich geschaffen haben. 

Für eine angemessene Risikobetrachtung müssen daher alle Ebenen einbezogen werden. Es gilt zwingend, klug, konstruktiv und pragmatisch zu handeln – denn jede unbedachte Fehlentscheidung kann das fragile System innerhalb weniger Jahre ins Wanken bringen.

Über Andreas Herteux

Andreas Herteux ist ein deutscher Wirtschafts- und Sozialforscher, Publizist und der Leiter der Erich von Werner Gesellschaft. Er ist zugleich Herausgeber und Co-Autor des Standardwerks über die Geschichte der Freien Wähler (FW). Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

Hat die Einstufung als gesichert rechtsextrem für Partei und Mitglieder Konsequenzen?

Die Einstufung durch den Verfassungsschutz hat nicht nur für die Partei, sondern auch für Deutschland massive politische sowie gesellschaftliche Chancen und Risiken.

Beginnen wir mit den unmittelbaren rechtlichen Folgen. Juristisch betrachtet ergeben sich aus der Statusänderung zunächst keine Konsequenzen im Sinne eines Parteiverbots. Sie erlaubt dem Nachrichtendienst jedoch eine intensive Überwachung, etwa den Einsatz verdeckter Ermittler oder die rechtskonforme Analyse der Kommunikationswege.

Für Beamte und Staatsdiener kann die Mitgliedschaft in der AfD künftig nachteilig sein, da sie keiner extremistischen Organisation angehören dürfen. Die Folgen könnten Disziplinarverfahren, Suspendierungen, Nichtverbeamtungen oder Entlassungen sein. Kritisch könnte es auch im Hinblick auf die Gemeinnützigkeit verbundener Vereine oder bei Fördermitteln aus öffentlichen Quellen für parteinahe Organisationen werden. Die staatliche Parteienfinanzierung – das gilt es zu unterscheiden – ist hingegen zunächst nicht gefährdet. Dafür bedürfte es eines Parteiverbots. Die Einstufung ist formal keine Vorstufe eines solchen Verbots, kann aber in einem entsprechenden Verfahren als Beweismaterial herangezogen werden.

Die AfD wird daher gegen die Einstufung klagen, jedoch hat dies keine aufschiebende Wirkung in Bezug auf die beschriebenen Konsequenzen. Nur als Hinweis; die AfD ging juristisch bereits gegen die Einstufung als „Verdachtsfall“ vor, blieb jedoch vor dem Verwaltungsgericht Köln weitgehend erfolglos. Das Verfahren befindet sich derzeit in der Berufung.

Droht der AfD nun ein Parteiverbot?

Die Einstufung ist klar von einem Verbot zu trennen. Ein solches kann nur das Bundesverfassungsgericht nach intensiver Prüfung aussprechen. Ein Verfahren, das ausschließlich von Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung angestoßen werden kann, würde Jahre dauern. Es ist unwahrscheinlich, dass es vor der nächsten Bundestagswahl abgeschlossen wäre. Ein AfD-Verbotsverfahren wäre wohl ähnlich komplex und langwierig wie das gegen die KPD, das sich von 1951 bis 1956 hinzog. Auch dessen Ausgang war ungewiss.

Gleichwohl setzt die Einstufung die neue Bundesregierung erheblich unter Druck, ein Verbot zumindest zu prüfen. Das ist politisch heikel – denn ein solcher Weg darf nicht als bequemes Alibi für einen ausbleibenden politischen Wandel, ja für eine notwendige Zeitenwende dienen, die die Gesellschaft längst durchlebt. Oder bildlich gesprochen: Dieses Ei wurde ins Nest gelegt, ohne die langfristigen politischen und gesellschaftlichen Folgen – oder auch nur deren Rahmenbedingungen – ausreichend zu bedenken. Zweifellos muss eine Demokratie wehrhaft sein, doch dies ist ein Spiel mit dem Feuer.

Welche politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind zu beachten?

Immer wieder entsteht der Eindruck, dass große Teile der politischen Kräfte die gesellschaftlichen Wirklichkeiten nicht kennen – oder diese lediglich für eine temporäre Normabweichung halten, die sich mit überschaubarem Aufwand korrigieren lässt.

Die Vorstellung, es gäbe eine „gesellschaftliche Mitte“, von der bestimmte Gruppen abweichen, ist ein Relikt aus einer Zeit, in der breite Mehrheiten ähnliche Lebensrealitäten, Mediennutzung und politische Grundhaltungen teilten. Diese ist vorbei.

Heute existieren in Deutschland – wie in vielen westlichen Demokratien – viele gleichwertige gesellschaftliche Lebenswelten nebeneinander. Sie unterscheiden sich nicht nur in Werten, sondern auch in ihrer Wahrnehmung von Wirklichkeit, in Sprache, Medien, politischen Interessen und Zukunftsvorstellungen. Es gibt keine dominante Norm mehr – weder kulturell noch politisch. Was früher als „Mitte“ galt, ist heute bestenfalls nur noch ein Milieu unter vielen. Es gibt nicht mehr die Gesellschaft, sondern viele Gesellschaften.

Diese sind jedoch nicht fragmentiert im Sinne eines Defizits – sie sind pluriform geworden. Diese Pluralität ist keine Abweichung von der Norm, sondern selbst neue Norm: Viele legitime Weltzugänge nebeneinander – oft widersprüchlich, manchmal unvereinbar.

Politik, die weiterhin versucht, nur ein bestimmtes Milieu anzusprechen oder andere als „abweichend“ zu problematisieren, trägt aktiv zur Entfremdung bei. Was es braucht, ist ein Bewusstsein für diese Gleichzeitigkeit – und die Fähigkeit, auf mehreren Bühnen gleichzeitig zu kommunizieren und zu gestalten.

Dieser Prozess des kollektiven Individualismus hat viele Ursachen. In Deutschland gehören dazu zweifellos die langjährige Marginalisierung vieler Milieus sowie die Dominanz links-postmaterieller Ideen, die letztlich nicht in erfolgreiche Politik mündeten. Doch das Phänomen ist global zu beobachten. Immer wieder wurden neue Lebenswirklichkeiten ignoriert, bis sie sich schließlich entkoppelten und neue politische Kräfte bedingten. Letztendlich auch, weil etablierte Parteien daran scheiterten, sich auf diese einzustellen.

Selbst das einende Band ist inzwischen zerfallen – und an seiner Stelle haben sich neue Normalitäten gebildet. Das ist nicht zu werten, es ist schlicht Realität – und dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.

Ein zentrales Element, vielleicht sogar der Brandbeschleuniger, ist das Internet. Es unterstützt die Entstehung neuer Wirklichkeiten, vernetzt Gleichgesinnte und dient als alternative Informationsquelle. Es bestätigt das eigene Weltbild, verfestigt es – und fördert Milieukämpfe, die heute zunehmend erbittert ausgetragen werden.

Was bedeutet das konkret im Hinblick auf die AfD-Einstufung?

Das hängt vom jeweiligen Milieu ab. Einige – insbesondere das postmaterielle (etwa 12 Prozent der Bevölkerung) und das sozial-ökologische Milieu (rund 8 Prozent) – lehnen die AfD grundsätzlich ab und stellen dieser ihre eigenen Weltanschauungen entgegen. Für sie ist die Einstufung eine Bestätigung des eigenen Denkens – und zugleich ein Signal, dass der eigene Weg nur temporär ausgebremst wurde. Im Gegenteil: Die Einstufung kann sogar genutzt werden, um unliebsame Themen erneut mit dem Hauch des Rechten zu benetzen – ein Effekt, der zuletzt an Wirksamkeit eingebüßt hatte.

Dies wiederum bringt konservativ-liberale Kräfte in eine schwierige Lage. Sie müssen sich einerseits klar von der AfD distanzieren, andererseits benötigen sie bestimmte inhaltliche Elemente für mögliche Koalitionen. Aus dieser Sicht war die Veröffentlichung der Einstufung durch das Innenministerium ein Bärendienst für die Union und Friedrich Merz, denn manch Inhalt dürfte nun etwas leichter zu diskreditieren sein.

Andere Lebensrealitäten könnten durch die Maßnahme abgeschreckt werden. Allerdings war der „Verdachtsfall“ AfD bereits bei der letzten Bundestagswahl weit in die Milieus der Mitte oder auch in die Arbeiterschaft vorgedrungen. Im prekären Milieu, das etwa 9 Prozent der Bevölkerung umfasst – also jene mit niedrigem Einkommen und hohem Frustrationspotenzial – kam die AfD auf 45 Prozent. Auch bei den veränderungsskeptischen Nostalgisch-Bürgerlichen (ca. 11 Prozent der Bevölkerung) dominiert die Partei mit 37 Prozent. In der adaptiv-pragmatischen Mitte (etwa 12 Prozent der Bevölkerung) – also jenen, die sich durch Fleiß, Anpassungsbereitschaft und Pragmatismus auszeichnen – lagen CDU/CSU und AfD mit je 32 Prozent gleichauf.

Viele Menschen wird die Botschaft der Einstufung daher gar nicht erreichen – oder sie wird über Kanäle aufgenommen, die eine alternative Sichtweise verbreiten.

Inzwischen gibt es so viele Anti-Establishment-Wähler, dass nur ein tiefgreifender Umbruch in den Parteistrukturen sie noch zurückgewinnen könnte. Eine rein inhaltliche Neuausrichtung wird nicht ausreichen. Die Vorstellung, man könne dieses Wählerpotenzial durch verbale oder symbolische Distanzierungen binden, ist naiv. Selbst ein Verbot der AfD würde lediglich neue politische Bewegungen hervorbringen. Das BSW hat bereits gezeigt, wie schnell neue politische Räume besetzt werden können – auch wenn der unmittelbare Erfolg zur Bundestagswahl 2025 noch ausgeblieben ist.

Die Gefahr einer Wirklichkeitsimitation, in der nur ein bestimmter Bevölkerungsausschnitt angesprochen wird, ist real. Man bestätigt sich selbst. Es wäre ein „Weiter-so“ – und genau das würde die Demokratie auf Dauer gefährden.

Was sollten die Parteien tun, um die Wähler für sich zu gewinnen?

Das lässt sich kurz und knapp in fünf Punkten zusammenfassen:

  1. Inhaltlich: Konstruktiver Pragmatismus
  2. Neue Köpfe – glaubwürdige, unverbrauchte politische Persönlichkeiten
  3. Anerkennung der gesellschaftlichen Fragmentierung als Realität, nicht als Störung
  4. Ein neues, verbindendes Narrativ jenseits klassischer Lager
  5. Moderne, zielgruppengerechte Kommunikation – auch in digitalen Räumen

Das ist leichter gesagt als getan. Es wäre ein struktureller Kulturwandel, aber die Situation ist ernst – es steht viel auf dem Spiel. Im Grunde genommen alles.

Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.