Merz sieht sich schon als Kanzler - doch er steht noch vor einer heiklen Wahl
Der Kanzler braucht zu seiner Wahl im ersten Wahlgang mindestens so viele Stimmen, wie die absoluten Mehrheit der Zahl der Abgeordneten entspricht; im neuen Bundestag also 316 von 630. Abgeordnete, die fehlen oder sich enthalten, stimmten demnach faktisch mit Nein.
Die bisherigen neun Kanzler – von Konrad Adenauer bis Olaf Scholz – wurden stets im ersten Wahlgang gewählt. Aber es war manchmal sehr knapp. Auch die zusammen 328 Abgeordneten der angestrebten CDU/CSU/SPD-Koalition unter Friedrich Merz können sich maximal 12 Abweichler leisten.
Dass Abgeordnete nicht so stimmen, wie ihre Fraktionsführungen das erwarten, war bisher bei allen Kanzlerwahlen festzustellen. Ein paar Abweichler gibt es immer, sei es aus politischen, sei es aus persönlichen Gründen.
Geheime Kanzlerwahl bietet seltene Gelegenheit, offene Rechnungen zu begleichen
Die geheime Wahl bietet die seltene Gelegenheit, offene Rechnungen bequem zu begleichen – anonym, aber wirkungsvoll. Mancher aus den Regierungsfraktionen will dem eigenen Kanzler vielleicht mit einem schlechten Ergebnis einen Denkzettel verpassen.
Abgeordnete des kleineren Koalitionspartners lehnen möglicherweise den Kanzlerkandidaten der anderen Partei ab oder sind mit dem Koalitionsvertrag unzufrieden. Die abweichende Stimmabgabe kann auch das Ergebnis der Enttäuschung sein, selbst bei der Ämtervergabe leer ausgegangen zu sein.
Das historisch schlechteste Ergebnis erreicht Helmut Kohl (CDU) bei seiner dritten und letzten Wiederwahl 1994. Union und FDP hatten die Bundestagswahl nur knapp gewonnen. Schwarz-Gelb kam auf 341 Stimmen, die Kanzlermehrheit lag bei 337, also ganze vier Stimmen „über dem Durst“.
Kohl wusste, dass es in den eigenen Reihen grummelte, weil er ein schwaches Ergebnis erzielt hatte und er zudem in der FDP aus Widerspruch stieß. Vorsichtshalber gab Kohl vor der Kanzlerwahl keine Personalie bekannt. Wer also Minister oder Staatssekretär werden wollte, musste ihn zunächst einmal wählen.
Letztlich ging Kohls Manöver auf: Von den 341 schwarz-gelben Abgeordneten erhielt er 338 Stimmen – eine einzige mehr als benötigt. Jahre später erzählte der Altkanzler, er habe diese Wiederwahl letztlich zwei SPD-Abgeordneten zu verdanken gehabt. Diese hätten ihm das nach ihrem Ausscheiden aus der Politik anvertraut.
Klingbeil sichert Merz SPD-Stimmen zu
Merz war in Bezug auf die Postenvergabe nicht so vorsichtig wie sein damaliger Vorgänger. Auch bei der SPD wissen vor der Abstimmung alle, wer etwas wird und wer nicht. Obendrein hatten kurz nach der Wahl einige SPD-Abgeordnete verkündet, sie würden nie und nimmer für Merz stimmen - SPD-Chef Lars Klingbeil hat am Wochenende aber genau das versprochen.
"Unsere Mitglieder haben mit 85 Prozent sehr deutlich gesagt, wir wollen, dass ihr in diese Koalition geht. Das ist für jeden Abgeordneten ein klares Votum der Parteibasis", betonte er. "Dazu gehört jetzt auch, am Dienstag im ersten Wahlgang Friedrich Merz als Bundeskanzler zu wählen. Ich habe keinerlei Hinweise, dass irgendwer in der Fraktion das anders sieht."
Dennoch ist es wenig wahrscheinlich, dass die SPD-Fraktion Merz hundertprozentig unterstützt.
Mancher dürfte für Merz stimmen, obwohl er ihn ablehnt. Bei einer gescheiterten Kanzlerwahl könnte es nämlich zu Neuwahlen kommen. Da könnte aber das eigene, nur knapp gewonnene Mandat wieder verloren gehen.
Das rationale Kalkül könnte bei manchem so lauten: Lieber den Merz ins Kanzleramt schicken, als auf den mühsam errungenen Sitz im Bundestag wieder zu verzichten. So könnte sogar der eine oder andere Grüne denken.
Bei allen Kanzlerwahlen bekamen die Gewählten weniger Stimmen, als die jeweilige Koalition auf die Waage brachte. Das war vier Mal bei Angela Merkel (CDU) so, aber 2021 ebenso bei Olaf Scholz (SPD).
Noch sitzt der Merz nicht am Kanzler-Schreibtisch
Die einzige positive Ausnahme erlebte Gerhard Schröder (SPD) bei seiner ersten Wahl 1998. Er erhielt mindestens sieben Stimmen mehr, als Rot-Grün zusammen Abgeordnete hatte. Da ein Grünen-Abgeordneter fehlte, verhalfen ihm wohl acht Abweichler sicher zu einer komfortablen Mehrheit.
Das verdankte er nicht zuletzt dem damaligen stellvertretenden PDS-Vorsitzenden Wolfgang Gehrcke, einem ehemaligen Kommunisten. Der erzählte 2005 Journalisten, sein „alter Bekannter“ Schröder habe ihn vor der Wahl gefragt, warum er ihn nicht wählen wolle.
Gehrcke wollte, so seine Schilderung, von Schröder wissen, wie viele Stimmen er denn brauche? Der habe geantwortet: „sieben“. Die bekam er auch. Allerdings hatten SPD-Emissäre bei der FDP ebenfalls um Unterstützung für Schröder geworben.
Wer 1998 wen gewählt hat und wer wen nicht, wissen letztlich nur die Beteiligten. Das wird auch am 6. Mai nicht anders sein – mit offenem Ausgang.
Noch sitzt der CDU-Vorsitzende nicht an dem Schreibtisch, den seine „Parteifreundin“ Angela Merkel 16 Jahre lang okkupiert hatte. Sollte Merz im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit verfehlen, fände innerhalb von 14 Tagen ein zweiter Wahlgang statt. Da wäre abermals die Kanzlermehrheit – 316 von 630 Stimmen – erforderlich.
Würde diese wiederum verfehlt, reichte im dritten Wahlgang die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Dann läge es am Bundespräsidenten, ob er den Gewählten zum Kanzler ernennt oder den Bundestag auflöst. Die Alternative lautete also: Minderheitsregierung oder Neuwahlen.
Bei einer Minderheitsregierung wäre plötzlich die AfD das Zünglein an der Waage. Potenzielle Abweichler wissen das. Welche Schlüsse jeder der 630 Abgeordneten daraus zieht, weiß niemand.