Wir lassen unsere Kinder digital verfetten - und gucken dabei tatenlos zu

Ich hatte gerade ein Stipendium zur Medien-Technikpädagogik abgeschlossen und für ein Nachhilfeinstitut die erste Computerschulkette mit 80 Niederlassungen aufgebaut. Computer waren damals noch Pionierarbeit – und dann kam diese piepsende Plastikwelle: Tamagotchis. Das sind kleine, in den 1990ern populäre elektronische „Haustiere“ in Ei-Form, die gefüttert, gepflegt und bespaßt werden müssen, sonst „sterben“ sie auf ihrem Pixel-Display.

Pädagogen riefen Alarm: „Die Kinder verlieren den Bezug zur Realität! Das ist Suchtgefahr pur!“

Eines Tages stand ein siebenjähriger Junge in einer meiner Filialen, stemmte seine Fäuste in die Hüften und fragte empört:

„Glaubt ihr wirklich, dass ich nicht weiß, dass das kein echtes Tier ist? Für wie dumm haltet ihr mich?“

Christoph Maria Michalski, bekannt als „Der Konfliktnavigator“, ist ein angesehener Streit- und Führungsexperte. Mit klarem Blick auf Lösungen, ordnet er gesellschaftliche, politische und persönliche Konflikte verständlich ein. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.

Diese Szene zeigt: Kinder sind oft klarer im Kopf, als wir ihnen zutrauen – und Erwachsene neigen dazu, Technik zu verteufeln, statt den Umgang damit vorzuleben.

Heute: Gleicher Aufschrei, anderes Gerät

Springen wir ins Jahr 2025. Statt Tamagotchis piepst jetzt das Smartphone – nur ungleich lauter, häufiger und mit mehr Funktionen. Die Fronten sind ähnlich wie damals:

  1. Strenge Reglementierer wie die Leopoldina wollen Social Media erst ab 13 erlauben, danach nur mit elterlicher Zustimmung. Sie fordern 45-Minuten-Zwangspausen und das Abschalten von Autoplay. Politiker wie Cem Özdemir vergleichen die Handy-Nutzung mit Autofahren: „Wir lassen Jugendliche auch nicht ohne Führerschein hinters Steuer.“
  2. Medienpädagogen dagegen halten nichts von reinen Verboten. Sie warnen vor „Populismus auf Kosten der Medienbildung“ und fordern digitale Kompetenz von Anfang an – am besten schon in der Kita.
  3. Eltern sind gespalten: Laut einer Postbank-Studie wollen 81 % ein Handyverbot in Schulen. Jüngere Eltern, selbst Digital Natives, setzen auf strikte Zeitlimits. Ältere Eltern, die den Sprung ins Digitale erst später gemacht haben, plädieren häufiger für Eigenverantwortung.
  4. Bundesländer wie Hessen und das Saarland machen Nägel mit Köpfen und verbieten Smartphones an vielen Schulen – mit Ausnahmen für Oberstufe und Notfälle.

Das Muster ist identisch mit früheren Technikdebatten: Taschenrechner, Computer im Unterricht, Internetzugang – erst kam die Panik, dann die schrittweise Integration. 

Nur dass das Smartphone alles in einem ist: Taschenrechner, Fernseher, Lexikon, Kamera, Spielekonsole – und natürlich das Tamagotchi 2.0.

Der blinde Fleck: Wir Erwachsenen

Die unangenehme Wahrheit ist: Kinder sind nicht das Hauptproblem. Wir sind es. Kinder schauen nicht in Gesetzestexte, um zu lernen, wie man mit Medien umgeht – sie schauen auf uns:

  1. Wenn Eltern beim Abendessen mehr mit ihrem Newsfeed als mit ihrem Kind sprechen, ist das der Lehrplan.
  2. Wenn Lehrkräfte Tablets nur als Ersatztafel nutzen, vermitteln sie: Technik ist Deko, kein Werkzeug.
  3. Wenn Führungskräfte im Meeting sagen „Legt die Handys weg“ – und selbst alle drei Minuten aufs Display schauen – ist das der doppelte Boden, auf dem digitale Erziehung zusammenbricht.

Medienkompetenz muss deshalb Pflichtfach in der Lehrerausbildung werden – und nicht als 90-minütige Fortbildung mit PowerPoint-Folien.

Lesetipp (Anzeige)

"Streiten mit System: Wie du lernst, Konflikte zu lieben" von Christoph Maria Michalski

Wer Kinder unterrichten will, sollte digitale Werkzeuge im Schlaf beherrschen, Fake News auseinandernehmen können, und wissen, wie man TikTok nicht nur kritisiert, sondern für Bildung nutzt.

Warum Kinder dieser Faszination erliegen – und warum das völlig normal ist

Kinder sind neugierig, reizoffen und von Natur aus auf Belohnungssuche – das ist kein Defekt, sondern ein Motor ihrer Entwicklung. Ein Smartphone bietet genau das, was das kindliche Gehirn liebt: sofortige Rückmeldungen, bunte Bilder, Geräusche, soziale Interaktion. In der Entwicklungspsychologie spricht man von novelty seeking – dem Drang, Neues zu entdecken – und vom Dopamin-Kick durch Belohnungssysteme.

Dass Kinder diesen Reizen erliegen, ist also so normal wie das Interesse am Klettergerüst oder an Süßigkeiten. Problematisch wird es nur, wenn diese Faszination ausschließlich in passives Konsumieren fließt – dann droht das „digital Verfetten“: geistige Bewegungsarmut trotz Dauerbeschäftigung.

Die Herausforderung liegt nicht darin, diese Neugier zu unterdrücken, sondern sie zu kanalisieren: hin zu kreativen, sicheren und selbstbestimmten Formen der Nutzung.

Wer das versteht, hört auf, Kindern pauschal „digitale Schwäche“ zu unterstellen – und beginnt, ihre Faszination in Lernenergie zu verwandeln.

Sechs ungewöhnliche Ideen, um das Smartphone-Problem anzugehen

1. Handy-Führerschein als Live-Show

Statt Multiple-Choice-Fragen: Kinder müssen in simulierten Extremsituationen Fake News entlarven, einen Akku-Notfall meistern oder ein Meme mit Bildungsinhalt erstellen.

-> Kompetenzen entstehen im Tun, nicht im Zuhören.

2. Digitaler Mittagsschlaf

Um Punkt 12 kommen alle Handys in einen „Ruheraum“. 45 Minuten ohne Bildschirm, danach gemeinsames Gespräch: Was habe ich in der Zeit gemacht?

-> Pausen trainieren Achtsamkeit.

3. Fütterungszeiten wie beim Haustier

Smartphones dürfen nur zu festen Slots genutzt werden – wie Tamagotchis, die nur zu bestimmten Zeiten „gefüttert“ werden. Wer nachts um zwei Futter gibt, weckt nur das Monster.

-> Rhythmus schafft Kontrolle.

4. Digitales Fastenfest

Einmal pro Halbjahr: Eine Woche ohne Screens – aber als Festival. Stadtrallye ohne Google Maps, Meme-Basteln mit Schere & Papier, Podcastaufnahme auf Kassette.

-> Alternative Erlebnisse machen Verzicht erträglich.

5. Smartphone als Haustier mit „Gesundheitssystem“

Das Gerät bekommt einen Namen, einen Charakter, einen „Gesundheitsbalken“. Bei Dauerstress (z. B. 10 Stunden TikTok) wird es „krank“ und muss in den Genesungsmodus.

-> Emotionalisierung kann Verhalten steuern.

6. Lehrer als digitale Zauberer

Keine Technikpolizei, sondern Digitalmagier: KI-Tricks zeigen, Quellen prüfen, kreative Tools vorführen.

-> Wer Technik beherrscht, statt sich beherrschen zu lassen, hat die Macht.

Die Tamagotchi-Panik von 1997 war unbegründet. Auch heute sind nicht die Geräte der Feind, sondern unser Umgang mit ihnen.

Kinder brauchen Vorbilder, keine digitalen Moralprediger. Wer ihnen Medienkompetenz beibringen will, muss selbst kompetent sein – und das heißt: bewusst, kreativ und selbstbestimmt mit der Technik umgehen.

Vielleicht sollten wir Erwachsenen uns selbst erst mal einen Handy-Führerschein ausstellen lassen – bevor wir wieder so tun, als wären nur die Kleinen das Problem.

Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.