Mädchen sucht am Strand panisch nach den Eltern – die Worte seiner Retterin bestürzen mich

Ich liege bäuchlings auf meinem blau-weiß gestreiften Badehandtuch am Strand von Warnemünde. Die Sonne brennt vom Himmel, es sind knapp 30 Grad. Wellen rauschen, Kinder jauchzen vergnügt im Wasser, vereinzelt schreien ein paar Möwen. Über meinen frühen Feierabend und das karibisch-mecklenburg-vorpommersche Wetter gleichermaßen erfreut schlage ich mein Buch auf, rücke meinen Schlapphut zurecht und beginne zu lesen.

Eine halbe Seite später tapsen kleine Kinderfüße in mein Sichtfeld. Ich schaue unter meiner breiten Krempe hervor und sehe ein kleines Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt, das direkt auf mich zuläuft. Es schaut in der Gegend umher, wirkt etwas verträumt. Der blau-rosa Badeanzug ist noch klitschnass, die braunen Haare sind schon etwas getrocknet. 

Ich schaue der Kleinen kurz nach und widme mich meinem Buch. 

Inmitten von tausenden Strandbesucher verliert ein kleines Mädchen seine Eltern

Wieder eine halbe Seite später. Plötzlich ertönt hinter mir ein leises Schluchzen. Ich setze mich schnell auf und drehe mich um – es ist wieder das kleine Mädchen. Weinend und allein steht es zwischen zahlreichen bunten Strandmuscheln und Sonnenschirmen, dreht sich suchend nach rechts, dann nach links. Geht dann schnellen Schrittes und im Zickzack weiter, immer lauter weinend. 

Geschockt sehe ich ihr nach. Die Kleine sucht ihre Eltern – das ist nun allen klar, die das Mädchen bemerkt haben. Ein Mann mit Sonnenbrille, Tattoos und Piercings, der neben mir liegt, beobachtet das Kind kurz, wendet dann aber den Blick ab. 

In Gedanken gehe ich durch, wie ich der Kleinen gleich nachlaufe, sie anspreche, mit ihr zu Turm 3 – einer Wasserrettungsstation – gehe. Doch gelähmt vom Zuschauereffekt hadere auch ich, ihr nachzulaufen. Mein Blick trifft den einer gebräunten Frau mit braunem Bob vor mir. Wortlos einigen wir uns darauf: Einer von uns muss ihr helfen. 

Schnell zieht sich die Frau ihr Bikini-Oberteil an. "Sie läuft in die falsche Richtung", sagt sie. Es klingt Berlinerisch. "Sie gehört zu Ihnen?", frage ich. "Nein", antwortet sie, steht auf und eilt dem Kind hinterher. Inmitten der Menschenmenge verliere ich die Frau kurz aus den Augen, dann erspähe sie wieder. Mit dem Mädchen an der Hand geht sie zielstrebig in die andere Richtung. 

Offenbar wollen sie zu Turm 3, um die Kleine dort ausrufen und von den Eltern abholen zu lassen, denke ich. Und lausche. Aber es ertönt keine blecherne Durchsage.

Strand
Am Strand von Warnemünde reihen sich Strandmuscheln an Strandkörbe. Getty Images

Es war nicht das erste Mal, dass das Kind am Strand von Warnemünde umherirrte

Wenige Minuten später kommt die Frau wieder. Ohne das Kind. Mission geglückt, vermute ich. "Das ist wirklich lieb, dass Sie sich um die Kleine gekümmert haben", sage ich zu ihr. "Ich verstehe das nicht", entgegnet die Frau gereizt. "Das sind sechs Erwachsene und die schaffen es einfach nicht, auf das Mädchen aufzupassen. Sie war total aufgelöst", sagt sie. 

Mir dämmert: Sie waren gar nicht beim Wachturm, sie hat das Mädchen direkt zu den Eltern gebracht. Die Frau konnte das Kind einer Familie zuordnen. Denn: "Die Kleine ist hier vorhin schon mal rumgeirrt." Unverständlich sei das, ärgert sich die Frau.

Ihre Worte versetzen meinem Herzen einen Stich. Sechs Erwachsene, die sich offenbar nicht sehr um das kleine Mädchen scheren, das heute schon zweimal verloren ging. Nah am Wasser. Und inmitten von knapp zehntausend Strandbesuchern. Manche Verbrecher nutzen solche Situationen auch aus, denke ich und schaudere.

Danke, dass es Menschen wie Sie gibt

Dass Eltern ihre Kinder am Strand mal kurz aus den Augen verlieren, kommt vor. Auch als ich noch ein kleiner Knirps war, taperte ich einmal weinend und orientierungslos durch den Sand, ehe meine Eltern mich wieder einfingen. Den Geschmack des "Trostkekses", den ich danach aß, werde ich nie vergessen. Zu groß war die kurze Verzweiflung gewesen. 

Aber meine Eltern hatten mich gesucht, mich gerettet. Das kleine Mädchen im Badeanzug war anscheinend auf sich allein gestellt – zweimal. Ihre Angst und ihr Gefühl, dass ihre Familie ihr in größter Not nicht hilft, zerreißen einem das Herz.

Später am Abend, der Strand ist immer noch gut gefüllt, packt die Retterin vor mir zusammen. Sie verstaut ihre Badesachen und rollt ihren gestreiften Windschutz ein. "Tschüß", sagt sie beim Losgehen. "Tschüß", entgegne ich. Und mit Blicken: Danke, dass es Menschen wie Sie gibt.