Erziehung: Viele Eltern funktionieren nur noch – was ihnen helfen kann
Sie haben ihr Wunschkind bekommen, vielleicht sogar mehrere. Sie haben sich bewusst für eine Familie entschieden, weil sie Eltern werden wollten. Doch im Alltag mit all seinen Aufgaben und Herausforderungen fühlt sich das Elternsein mit der Zeit mehr und mehr nach einem Müssen an. Nach Durchhalten und Aushalten.
Das Elternseinwollen ist in den Hintergrund geraten und immer wieder schleichen sich unangenehme Gedanken ein, manchmal sogar ein regelrechter Fluchtimpuls: "Ich würde am liebsten abhauen!" Auch wenn nur wenige es zugeben, gibt es doch sehr viele Eltern, denen es so oder so ähnlich ergeht. Die nur noch funktionieren und sich ausgebrannt fühlen.
"Das Problem sind weder die Eltern noch die Kinder", sagt Pädagogin und Familienbegleiterin Inke Hummel. "Aber nur die Eltern können aktiv werden und etwas verändern. Sie sind der wichtigste Teil der Lösung."
Mit ihrem neuen Buch "Vom Müssen zum Wollen – Wenn du als Elternteil nur noch funktionierst" (Humboldt-Verlag) will Hummel Eltern auf diesem Weg mit vielen Übungen und Impulsen begleiten.
FOCUS online: Frau Hummel, warum sind viele Eltern heute so ausgebrannt und haben das Gefühl, nur noch zu funktionieren?
Inke Hummel: Das hat sehr viel mit dem Thema Fremdbestimmung zu tun. Wir möchten vielleicht nur mal fünf Minuten alleine im Bad sein, oder einfach mal unser Mittagessen aufessen – aber das Kind klettert an uns herum und lässt sich nicht abwimmeln. Wir sind ständig in der Verantwortung und gefordert. Denn Kinder können sich sehr lange noch nicht danach ausrichten, was ihr Umfeld braucht.
Hinzukommt die emotionale Nähe und der Wunsch nach einem harmonischen Familienalltag, der zu oft unerfüllt bleibt. All das kann einen unfassbaren Druck auslösen.
Und das unterscheidet sich von der Fremdbestimmung, die wir zum Beispiel aus dem Job kennen. Dort können wir eine Pause machen, wenn wir eine brauchen. Und wenn wir uns gar nicht wohlfühlen, können wir auch einfach kündigen. Diese Option haben wir mit Kindern nicht und wollen sie ja auch gar nicht. Aufgeben ist keine Option.
Was könnte stattdessen eine Option sein, um sich als Elternteil wieder besser zu fühlen?
Hummel: Im ersten Schritt: sich das nötige Wissen aneignen. Wenn Eltern zum Beispiel wissen, dass die Sachlage der Grund für diese negativen Gefühle ist und nicht etwa das Kind – egal ob es nun ein einfaches Kind ist oder ein regulationsschwaches – dann ist das schon mal viel wert. Denn dann kann man damit anfangen, diese schlechten Gefühle nicht mehr an das Kind weiterzugeben.
Wissen ist auch der Schlüssel zu mehr Sicherheit und Souveränität im Umgang mit Kindern. Wer unsicher ist, sucht sich Sicherheit. Hier besteht ein großer Wunsch, eine Methode, oder eine Formel zu finden, die "funktioniert".
Aber so ist das Leben mit Kindern nicht. Pädagogik ist keine Matheaufgabe. Es gibt nur Wahrscheinlichkeiten, aber keine Garantien. Wenn wir uns das bewusst machen, können wir unsere Erwartungshaltung verändern. Und das kann einen enormen Unterschied im Empfinden des Familienalltags machen.
Inwiefern?
Hummel: Das, was Eltern stresst, sie verunsichert und ins Zweifeln bringt, hat sehr oft mit ihrer erwachsenen Erwartungshaltung zu tun: Wenn ich nur genug tue, dann funktioniert das auch mit meinem Gegenüber. Ich gebe etwas rein und bekomme auch etwas raus.
Aber mit Kindern funktioniert das oft nicht, oder zumindest nicht sofort. Und dann fragen sich Eltern häufig: Warum ist das Kind so undankbar? Ich mache doch alles und wenn ich dann einmal etwas verlange, kooperiert das Kind trotzdem nicht!
Wenn ich hingegen in Situationen, die häufig konfliktreich sind, von vornherein mit einer realistischen Erwartungshaltung gehe, verhilft mir das zu einem ganz anderen Standpunkt. Wenn ich zum Beispiel morgens die realistische Erwartungshaltung habe, dass mein Kind keine Motivation hat, pünktlich in den Kindergarten zu kommen und ich weiß, dass ich das auch nicht ändern kann, dann muss ich mich auch nicht darum bemühen, sondern kann mich auf die Dinge konzentrieren, die morgens passieren müssen.
Die Enttäuschung und die Zweifel, warum unser Morgen nicht so rundläuft, kann ich mir dann sparen, wenn ich mir bewusst gemacht habe, dass nicht das Kind dieses Gefühl verursacht, sondern meine Erwartung.
Was können Eltern denn konkret tun, um aus der Fremdbestimmung zu kommen und wieder Freude am Elternsein zu empfinden?
Hummel: Gerade in den ersten Jahren ist es normal und auch nötig, dass wir als Eltern unsere Bedürfnisse zurückstellen, um ein Baby oder Kleinkind in seinen Bedürfnissen gut zu begleiten. Ein gewisses Maß an Fremdbestimmung bleibt nicht aus, weil unsere Kinder sehr stark von uns abhängig sind.
Wichtig ist aber, dass die Fürsorge fürs Kind nicht in eine Selbstaufgabe mündet. Mangelnde Selbstfürsorge ist einer der wichtigsten Gründe, warum Eltern sich ausgebrannt fühlen.
Deshalb sollte man die Situation nicht so hinnehmen, wie sie ist oder gar erwarten, dass sie vom Kind aus besser wird – sondern aktiv werden und an einer Lösung arbeiten. Gerade dann, wenn wir uns fremdbestimmt fühlen, hilft es, bewusst eine Entscheidung für sich selbst zu treffen.
Wir brauchen das Gefühl, wieder über ein paar Dinge selbst entscheiden zu können. Am Anfang sind das vielleicht nur Kleinigkeiten. Aber jedes Mal, wenn es gelingt, kommen wir dem Elternseinwollen-Gefühl ein Stückchen näher.
Viele Eltern ahnen vermutlich, dass es gut wäre, auch ihre eigenen Bedürfnisse im Blick zu behalten – aber schaffen es im Alltag dann doch nicht. Woran liegt das?
Hummel: Ein Grund dafür ist der Druck, der heute häufig auf Eltern lastet: sowohl der Druck von außen durch die Gesellschaft, die Medien oder das nahe Umfeld, als auch der innere Druck, als Eltern einen guten Job zu machen.
Hier geht es auch wieder stark um Sicherheit: Ziehe ich mir meine Sicherheit aus absoluter Perfektion – oder ziehe ich mir meine Sicherheit wirklich aus Expertenwissen. Wenn ich zum Beispiel das Wissen habe, dass die Bindung zu meinem Kind nicht kaputt geht, wenn ich mich um mein Bedürfnis kümmere und zum Beispiel heute Abend ausgehen möchte, oder wenn ich keine Rollenspiele mag und mich deshalb auch nicht dazu zwinge, dann ist schon ganz viel gewonnen.
Viele Eltern setzen sich nicht für ihre Bedürfnisse ein, aus Angst, ihr gutes Verhältnis zum Kind zu gefährden.
Und diese Angst können Sie Eltern nehmen?
Hummel: Kein Kind wird ohne Belastungen groß. Auch nicht ohne Belastungen in der Eltern-Kind-Beziehung. Es ist menschlich, dass wir nicht wie eine Maschine immer gleich alles richtig machen. Kinder lernen noch und Erwachsene auch!
Wenn wir uns als Eltern für unsere Bedürfnisse einsetzen, dann wird das an der ein oder anderen Stelle zu Konflikten und vielleicht auch zu Streit führen. Aber ein Streit kann die Beziehung auch stärken, wenn wir im Nachgang wieder den Kontakt suchen und erklären, was in uns vorgegangen ist.
Streiten ist besser als Schweigen. Und Eltern schweigen zu häufig, wenn es um ihre eigenen Bedürfnisse geht, vor allem, wenn sie ein starkes Harmoniebedürfnis haben.
Gerade bei Eltern, die beziehungsorientiert erziehen wollen, besteht da häufig ein Missverständnis: Beziehungsorientiert heißt nicht leicht und konfliktfrei, sondern konfliktstark. Das bedeutet, wenn wir streiten, dann tun wir das mit Lösungssuche, Nachbesprechung und wenn nötig, auch mit Entschuldigungen.