Ex-BND-Agent: Wenn Putin uns angreift, wird diese Kleinstadt zum Schicksalsort

Zur gleichen Zeit treten namhafte Politiker der SPD mit einem Manifest hervor, in dem sie sich mit Betroffenheit gegen „Wettrüsten und Kriegsvorbereitung“ der von ihrer eigenen Partei getragenen Koalitionsregierung wenden und stattdessen für eine Priorisierung des Dialogs mit Moskau werben, das ja immer wieder seine „Friedenswilligkeit“ betone. 

Warnungen des BND wurden auch 2014 und 2022 als Panikmache abgetan

Warnungen des BND werden in diesem Kontext zumindest implizit als „Panikmache“ abgetan, ganz wie dies im Übrigen bereits vor 2014 und 2022 parteiübergreifend der Fall gewesen war. 

Die Ereignisse sollten inzwischen eigentlich für sich gesprochen haben. Ein Rückfall in „Naivität“, also Realitätsverweigerung, ist daher aktuell das Letzte, das wir uns antun können. 

Eine nüchterne Betrachtung und Bewertung der offensichtlichen Fakten, insbesondere auch des konkreten russischen militärischen und geheimdienstlichen Handelns, nicht russischer Desinformation, ist hier in unser aller Interesse dringend angeraten. 

Der systematische machtpolitische Modus Operandi Russlands

Die aktuellen Aussagen des BND-Präsidenten stehen in einem über die Jahre auch wissenschaftlich eindeutig etablierten politischen und historischen Kontext: Militärische Konflikte mit Russland kommen nicht von ungefähr. Sie sind Teil einer langfristig angelegten russischen Strategie und eines systematischen machtpolitischen Modus Operandi.

Unter der Führung von Wladimir Putin und seines stark vom KGB geprägten Machtzirkels hat sich Russland bereits vor 2014 zunehmend als eine Macht mit öffentlich erklärten revisionistischen Zielen profiliert, die es bei Bedarf auch unter Einsatz von militärischen Mitteln durchzusetzen galt. 

Die Auflösung des Warschauer Pakts im März 1991 und das Ende der Sowjetunion im Dezember 1991 waren, auch dies in aller Öffentlichkeit konsistent verbreitet, für Putin und seine Getreuen nicht hinnehmbare geopolitische und auch persönliche Katastrophen. Dass dies nicht Folklore ist, sollten die vergangenen zwei Dekaden zweifelsfrei verdeutlicht haben. 

Ukraine-Konflikt lässt Putins Ansatz in jeder Phase klar erkennen

Von Putins Revisionismus sind grundsätzlich alle nach 1991 unabhängig gewordenen ehemaligen Sowjetrepubliken betroffen, in zweiter Linie auch die ehemaligen nichtsowjetischen Staaten des Warschauer Pakts. Entscheidend ist lediglich die Frage, unter welchen Umständen und mit welchen Mitteln die „Rückgewinnung verlorenen Territoriums“ mit Aussicht auf Erfolg umgesetzt werden kann. 

Angesichts der relativen Schwäche Russlands nach 1991 war es offensichtlich, dass nur ein langfristig angelegtes Vorgehen mit asymmetrischen Methoden und unter konsequenter Ausnutzung politischer und militärischer Schwächen der jeweiligen Gegner einen Erfolg versprechen würde. 

Der Ukraine-Konflikt bis hin zum hybriden militärischen Übergriff von 2014 und dem Angriffskrieg von 2022 lässt diesen opportunistischen Ansatz in jeder Phase klar erkennen. 

Die Aktenlage ist hier sowohl in den nationalen Diensten als auch auf der Ebene von EU und Nato seit Jahren eindeutig und fachlich unwidersprochen. Ebenso klar war und ist allen auch die strategische Absicht, Reaktionen in Europa und den USA mit einem breiten Spektrum hybrider Maßnahmen zur Schwächung von politischer, gesellschaftlicher und militärischer Resilienz zu begegnen. 

Eine umfassende kriegerische Konfrontation mit Nato-Staaten, insbesondere den USA, galt es dabei jedenfalls so lange zu vermeiden wie das eigene russische Abschreckungs- und Bedrohungspotential nicht ausreichend etabliert zu sein schien.

Zerstörungen durch russische Drohnenangriffe.
Zerstörungen durch russische Drohnenangriffe. Foto: REUTERS/Valentyn Ogirenko

Ukraine führt Russland die Grenzen der eigenen Kriegsführung vor Augen

Der lediglich als „Sonderoperation“ konzipierte und als solcher missglückte militärische Überraschungsangriff und Enthauptungsschlag vom Februar 2022 hat der russischen Führung die operativen Grenzen der eigenen Kriegführung in der Ukraine vor Augen geführt.

Ein Sieg auf dem Schlachtfeld ist, wenn überhaupt, nur unter weiteren exorbitanten Opfern zu erreichen, es sei denn man würde die ukrainische Bevölkerung, ihre Streitkräfte und politische Führung durch anhaltende Terrorangriffe mit Flugkörpern und Drohnen aller Art entscheidend zermürben und zugleich eine massive Unterstützung des Kriegsgegners durch die USA und ihre europäischen Verbündeten abschrecken können. 

Mit Trump haben sich Moskaus Rahmenbedingungen verbessert

Mit Präsident Donald Trump haben sich die strategischen Rahmenbedingungen für Russland angesichts der offenkundigen amerikanischen Konflikt- und Eskalationsunwilligkeit gegenüber Moskau, einschließlich einer möglichen Relativierung der Bündnissolidarität deutlich verbessert. 

Dieser Trend geht einher mit spürbaren Tendenzen zur politischen Selbstabschreckung in Europa, die von russischer Seite im Rahmen hybrider Kriegführung nach Kräften durch gesellschaftlich wirksame Informationsoperationen und die Unterstützung aller nützlich erscheinenden Parteien und Gruppierungen gefördert werden. 

Stand der Verteidigungsfähigkeit der Nato wird entscheidend sein

Parallel hierzu hat Russland ganz offenbar eine massive, mittel- bis langfristig angelegte Aufrüstungskampagne eingeleitet, um mit weit überlegenen Kräften andere Nachbarstaaten glaubhaft bedrohen, erpressen, eventuell gar angreifen zu können, sofern die politische Gesamtlage ein solches Vorgehen als zielführend erscheinen lässt. 

Hierfür entscheidend wird zum gegebenen Zeitpunkt der Stand der Verteidigungsfähigkeit der Nato, eventuell auch nur der europäischen Staaten, sein. Alle operativen Ansätze, einen Zerfall von Bündnissolidarität und politischer Resilienz in den europäischen Nachbarstaaten zu fördern, werden hierfür im Rahmen russischer hybrider Kriegführung fortgesetzt werden. 

Nur dann könnte die angestrebte übergroße militärische Überlegenheit auch in politischen Ertrag umgesetzt werden, ohne dabei einen großen Krieg mit unwägbaren Risiken zu provozieren. 

In kleiner estnischen Grenzstadt könnte Putin die Nato testen

Ein gravierender Testfall für westliche sicherheitspolitische Solidarität und Handlungsfähigkeit wäre bereits auf kürzere Sicht eine hybride Operation gegen die baltischen Staaten. Die propagandistischen Ansatzpunkte sind traditionell allein schon mit der Positionierung als Schutzmacht für die russischsprachigen Bevölkerungsgruppen, insbesondere in Estland, gegeben. 

Konfliktlagen könnten allen Inklusions- und Deeskalationsmaßnahmen zum Trotz schlicht behauptet, provoziert und eskaliert werden; „Widerstand“ könnte, etwa nach dem Muster der „kleinen grünen Männchen“ auf der Krim 2014, organisiert und unterstützt werden; russische Streitkräfte könnten in Position gebracht werden, sei es als Druckkulisse, sei es als punktuell einzusetzende militärische „Schutz“- und Interventionsmacht. 

Eine Stadt wie das grenznah exponierte Narva als Zentrum der russischsprachigen Minderheit in Estland böte sich für den Versuch eines militärischen Handstreichs an. Eine derartige Lage würde dann unmittelbar zum Testfall für die Bündnissolidarität nach Artikel 5 des Nato-Vertrags und den Handlungswillen ihrer Mitglieder werden. 

Zur Person: Gerhard Conrad

Gerhard Conrad (Jahrgang 1954) ist promovierter Islamwissenschaftler und war langjähriger Top-Agent des Bundesnachrichtendienstes (BND), zuletzt als Direktor. Bekannt wurde er als Vermittler bei Verhandlungen zu Geiselbefreiungen im Nahen Osten. Von 2016 bis 2019 war er Direktor des EU Intelligence Analysis Center (INTCEN) - und damit ranghöchster ziviler Nachrichtendienstmitarbeiter auf europäischer Ebene. Zudem ist er "Intelligence Advisor" bei der Münchner Sicherheitskonferenz und steht dem "Gesprächskreis Nachrichtendienste in Deutschland e.V." vor. 2022 erschien sein Buch "Keine Lizenz zum Töten" (Econ).

Experte warnt: Schlag gegen die Nato bis 2029 denkbar

Bei entsprechender politischer Vorbereitung und militärischer Flankierung könnte Moskau daran interessiert sein, mit einem derartigen Übergriff auch noch während des Kriegs gegen die Ukraine einen derartigen politisch-psychologischen Schlag gegen das Nato-Bündnis durchzuführen. Im Erfolgsfall könnte dieser bereits in den Jahren bis 2029 erfolgen. 

Handelt die Nato nicht, könnte Putin große Schwäche des Westens ausnutzen

Raum gäbe es für weitergehende einzelne militärische Erpressungs- und Bedrohungsversuche, vornehmlich in der Ostsee, im Umfeld von Kaliningrad oder im äußersten Norden. 

Dies würde umso wahrscheinlicher werden, wenn sich der umfassenden russischen Aufrüstung keine adäquate Gegen- und Abschreckungsmacht auf europäischer und transatlantischer Seite, insbesondere im Bereich der Luftverteidigung und maritimen Resilienz, entgegenstellte. 

Russland könnte die aktuell in bestürzender Weise vielfach zur Schau gestellte militärische wie politische Schwäche und Inkohärenz des transatlantischen Westens als eventuell nur zeitlich begrenzte Chance verstehen, die es zu ergreifen gelte. 

Dieses „Window of Opportunity“ binnen kürzester Frist durch bestmögliche Bündnissolidarität und glaubhafte Wehrhaftigkeit zu schließen, wird daher von existenzieller Bedeutung sein. 

Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.