Mit 200 Kilo Sprengstoff: Ukraine-Drohne dringt unbemerkt in russischen Stützpunkt ein – und explodiert

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Der nächste Coup: An der Wowtschansk-Front ist ukrainischen Drohnen-Piloten mit einer Bodendrohne die Zerstörung eines russischen Postens gelungen. © IMAGO/Nicolas Cleuet/Le Pictorium

Neuer erfolgreicher Hinterhalt: Russland kämpft im Raum Charkiw gegen das eigene Versagen. Die Ukraine setzt auf Nadelstiche und macht Boden gut.

Wowtschansk – „Die Verteidigungskräfte der Ukraine reagieren angemessen auf feindliche Aktionen, verstärken Einheiten in bedrohten Gebieten und zerstören weiterhin russische Truppen, Waffen und Militärausrüstung“, sagte Vitaly Sarantsev im ukrainischen Fernsehen. Der Oberst und Sprecher der operativ-taktischen Gruppe in Charkiw berichtete von verschiedenen Aktionen, um die Invasionstruppen von Wladimir Putin nicht nur aufzuhalten, sondern zurückzudrängen. In Wowtschansk ist den Verteidigern jetzt ein weiterer Coup gelungen – scheinbar ohne jegliches Risiko für die eigenen Truppen.

Laut eines Berichts der Kyiv Post haben Soldaten der „Khorne-Gruppe“ der 116. Separaten Mechanisierten Brigade der Ukraine mittels eines unbemannten Bodenfahrzeugs (Unmanned Ground Vehicle – UGV) einen Sprengkopf in eine russische Stellung in der Stadt Wowtschansk in der Region Charkiw transportiert und dort mit einer 200 Kilogramm schweren Kombination aus Wasserstoff und Plastiksprengstoff einen russischen Beobachtungsposten zerstört – der Bericht stützt sich auf das Video des ukrainischen Militärjournalist Andriy Tsaplienko auf dessen Telegram-Kanal.

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Mittels einer Bodendrohne und zwei mit Wasserstoff gefüllten Behältern sowie einer Ladung Plastiksprengstoff hätten die Kämpfer der Brigade den Beobachtungspunkt der russischen Truppen nahe eines Fabrik-Komplexes zerstört, erklärt Tsaplienko. Aus diesem Posten nahe Wowtschansk heraus hätte der Feind Verletzte evakuiert, eigene Truppen entsetzt und vorgeschobene Stellungen mit Munition und Proviant versorgt; im Block mit den neunstöckigen Gebäuden seien zudem Vorbereitungen für Angriffsoperationen durchgeführt worden, erklärte die 116. Separate Mechanisierte Brigade.

„Im Gegensatz dazu hat das ukrainische Militär in Reaktion auf die russische Offensive eine beachtliche Widerstandsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit bewiesen. Nach dem ersten Schock formierten sich die ukrainischen Streitkräfte rasch neu und starteten eine erfolgreiche Gegenoffensive, die die Frontlinien stabilisierte und bis Mitte Juni wichtige Gebiete zurückeroberte.“

Die Ukraine setzt damit ihre Bemühungen fort, die russischen kämpfenden Einheiten von ihrer rückwärtigen Flanke aus anzugreifen und sie von ihrer Versorgung abzuschneiden. Im gesamten Verlauf des Ukraine-Krieges und an unterschiedlichen Kriegsschauplätzen – beispielsweise auf der Krim – hatten die Verteidiger damit Boden gegen die Russen gutmachen können. Allerdings berichtet die Kyiv Post weiter, dass die Lage in der Region Charkiw kritisch bleibe, da die russischen Streitkräfte offenbar unbeirrt auf die Eroberung weiteren Terrains setzten. Laut Vitaly Sarantsev griffen russische Truppen aktiv die Stellungen der Verteidigungskräfte an und konzentrierten ihre Bemühungen auf die Siedlung von Wowtschansk.

Das Video des Drohnen-Angriffs zeigt, wie ein Gefährt mühsam über Straßen und Gelände zockelt und von einer Aufklärungsdrohne überwacht wird; verschiedene schnelle Schnitte lassen nur Fragmente des Geschehens erkennen. Offenbar konnte die Bodendrohne aber unbemerkt russisch kontrolliertes Terrain durchqueren. Das Ende des Clips bildet eine gewaltige Explosion – der Wahrheitsgehalt und das Datum des Videos bleiben offen. Fest steht aber, dass Russland in Zugzwang gerät. Die Offensive rund um Charkiw steht weiterhin auf Messers Schneide, die russischen Truppen müssen sich offenbar gegen erbitterten Widerstand Meter für Meter vorwärts kämpfen.

Russland unter Druck: Kampf um Fabriken entscheidender Faktor in Charkiw-Offensive

„Russland unter Druck: Die Schlacht um die Chemiefabrik von Wowtschansk entscheidet das Schicksal der Charkiw-Offensive mit“, schreibt beispielsweise die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) und erinnert an die Kämpfe beispielsweise um das Asow-Stahlwerk in Mariupol, das offenbar ebenfalls geprägt war von Putins Gier nach Prestige. Die NZZ rät zur Vorsicht im Umgang mit Videos bezüglich der Situation in Wowtschansk: „Beide Seiten betreiben intensiv Propaganda, was die objektive Beurteilung der Situation erschwert – und dafür spricht, dass hier eine wichtige Schlacht auf der Kippe steht“, schreibt NZZ-Autor Ivo Mijnssen.

Obwohl die Russen sich in Wowtschansk schon vor Wochen festgesetzt hatten, scheint das unbehelligte Vorwärtskommen des fahrbaren Sprengsatzes Lücken in der russischen Kontrolle des Gebietes zu belegen. Bereits Ende Juni hatte die NZZ die Lage der russischen Besatzer als generell schwierig eingeschätzt. Beispielsweise soll die Ukraine die Gegend um Wowtschansk mit französischen Gleitbomben angegriffen haben. „Dass offenbar Kampfjets der Typen MiG-29 und Su-27 so nahe an der Front fliegen, ist neu. Es dürfte die Folge der Erlaubnis des Westens an Kiew sein, auch Ziele jenseits der Grenze anzugreifen und so Russlands Überlegenheit in der Luft zu reduzieren“, schreibt die NZZ.

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Interessant dürfte werden, inwieweit die erwarteten F-16 die Lage für die russischen Truppen weiter zuspitzen könnten. Darüberhinaus hatte die Ukraine zuletzt mit Drohnenangriffen unerwartete Erfolge erzielt und mehrere Flugplätze unter Feuer genommen – bis hinauf an den Polarkreis. Immerhin scheint die Ukraine auch so inzwischen halbwegs Herr über die Lage zu werden. Der Sprecher der 116. Separaten Mechanisierten Brigade erklärte jedenfalls, dass Russland inzwischen gezwungen sei, „Personal in Kellern zu sammeln, um weitere Angriffe auf ukrainische Stellungen zu starten“, wie die Kyiv Post berichtet.

Doug Livermore hält die Charkiw-Offensive grundsätzlich für gescheitert; beispielsweise „hatten die russischen Streitkräfte Mühe, eine stabile Versorgungskette aufrechtzuerhalten, die für anhaltende Operationen von entscheidender Bedeutung ist. Das Scheitern der Offensive offenbarte auch Schwächen in der Flexibilität und den Kommandostrukturen Russlands, die von agileren ukrainischen Streitkräften ausmanövriert wurden“, schreibt der Analyst des US-amerikanischen Thinktanks Center for European Policy Analysis (CEPA).

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Livermore begründet das Scheitern des russischen Vorwärtsdrangs neben den internen strukturellen Mängeln innerhalb der russischen Armee vor allem mit den ukrainischen Schnitten in die russische Logistik. Abgesehen von der starren russischen Taktik des blinden Anrennens auf gegnerische Stellungen ohne Rücksicht auf Verluste, hätten die Nadelstiche gegen Versorgungslinien jenseits der Grenze in der russischen Region Belgorod letztendlich Wirkung gezeigt, mutmaßt Livermore. Dies war möglich geworden durch den Freibrief von US-Präsident Joe Biden für Angriffe über die Grenze der Ukraine hinaus.

Allerdings stellte die NZZ bereits im Juni die Frage, inwieweit Russland mit den kleineren Offensiven in der Charkiw-Region eine größere Offensive im Verlauf des Sommers plane; oder ob sich die Kräfte der Invasionsarmee bereits erschöpft hätten – ihr zufolge deuteten Analysten das Zusammenziehen von Material und Truppen eher als Vorbereitung eines nächsten massiven Schlages. Ein Drohnen-Angriff der Ukraine, wie der jetzt in Wowtschansk erfolgte, könne diese erneute Offensive möglicherweise hinauszögern.

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Wie die Ukraińska Prawda ebenfalls bereits Mitte Juni berichtet hatte, verstärkt Russland kontinuierlich seine Kräfte im Verwaltungsbezirk Charkiw. Mehr als 10.000 Kräfte sollen inzwischen dort versammelt sein; trotz großer Verluste kämen dort wöchentlich zwischen 200 und 400 Kräfte hinzu. Obwohl die Verteidiger kaum frische Kräfte nachführen könnten, scheinen deren Linien stabilisiert zu sein – laut de NZZ trügen dazu westliche Munitionslieferungen genauso bei, wie Drohnen-Angriffe gegen russische Kolonnen. Der Nachschub würde also aufgerieben, lange bevor er sein Ziel erreiche.

„Die russischen Besatzer versuchen weiterhin, unsere Verteidiger aus ihren Stellungen zu vertreiben. Sie formieren sich neu. Im Gebiet der Siedlungen Morokhovets und  Krasne verlegt der Feind Personal in das Gebiet der Siedlung Hlyboke, um den Angriff fortzusetzen“, sagte Brigade-Sprecher Sarantsev jüngst der Kyiv Post.

Laut dem Analysten Doug Livermore gründe sich das Unvermögen Russlands, die ukrainischen Streitkräfte zu besiegen in dessen überholten militärischen Strukturen, wie er sagt: „Im Gegensatz dazu hat das ukrainische Militär in Reaktion auf die russische Offensive eine beachtliche Widerstandsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit bewiesen. Nach dem ersten Schock formierten sich die ukrainischen Streitkräfte rasch neu und starteten eine erfolgreiche Gegenoffensive, die die Frontlinien stabilisierte und bis Mitte Juni wichtige Gebiete zurückeroberte.“

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