Harter Kurs bei Bürgergeld und Rente? Deutschland droht etwas ganz anderes

In diesem Herbst steht eine große Gerechtigkeitsdebatte an. Es wird ein Showdown um die Sozialpolitik, die Union baut gerade Druck auf. Katherina Reiche, Carsten Linnemann, Markus Söder, Michael Kretschmer –

Von Bürgergeld bis Rente – Deutschland soll seine Sozialsysteme grundlegend reformieren, verlangen die Unionsleute. Höhere Steuern, setzen Sozialdemokraten dagegen. Welches Menü kochen die Koalitionäre da zusammen?

Sie mögen die Zahlen auf ihrer Seite haben, die Unionsleute. Die Dringlichkeit ist groß. Aber: Die Zahlen entscheiden nicht die Debatte, sondern die Mehrheitsverhältnisse bestimmen, wo es langgeht. Und die Reformer in der Koalition haben keine Mehrheit. Was nicht nur an der SPD liegt, dem Koalitionspartner. Sondern auch an der Union selbst.

Bei der Rente und Bürgergeld gab es harten Widerstand 

Die heftigste Gegenwehr gegen Reiches Idee, länger zu arbeiten, kam als „friendly fire“ aus den eigenen Reihen. Der Arbeitnehmerflügel der Union nannte die Bundeswirtschaftsministerin schon einmal zwecks Einschüchterung derselben: eine „Fehlbesetzung“. So hart wie CDA-Vize Christian Bäumler ging die SPD gegen die liberale CDU-Frau jedenfalls nicht zu Werke.

Und auch Markus Söders Vorschlag, die Flüchtlinge aus der Ukraine vom automatischen Bürgergeldbezug auszunehmen und stattdessen ins – billigere – Asylsystem zu stecken, erfuhr die härteste Gegenwehr wiederum vom Sozialflügel der Union – und nicht aus der SPD.

CDA-Chef Dennis Radtke, als Ruhrgebietler sozialisiert und damit Freund kernig-milieuhafter Rhetorik, ließ sich für den halb-Parteifreund Söder, den CSU-Vorsitzenden, einen besonderen Vergleich einfallen: Das Denken in Überschriften haben sich „zum Arschgeweih“ der deutschen Politik entwickelt, sagte er dem FOCUS. (Als ob ihm das völlig fremd wäre…)

In den deutschen Sozialdebatten wird stets auf den Gegensatz zwischen Union und SPD geschaut – und zu wenig auf die Union selbst. Die Folge ist eine Fehlwahrnehmung: Die Union ist mindestens ebenso eine Sozialpartei, wie es die SPD ist. Deshalb hat nun Friedrich Merz bei der anstehenden Reform des Sozialstaats auch schlechte Karten.

Die Renten-Sünde begann mit Adenauer

Das Rentensystem ist dysfunktional – kaum noch bezahlbar. Diesen Umstand hat Deutschland ein prominenter CDU-Politiker eingebrockt: Konrad Adenauer, Deutschlands erster Bundeskanzler. Gegen den wirtschaftlichen Sachverstand von Ludwig Erhard führte der Kölner 1957 die dynamische Rente ein.

Die teure Rente mit 63, also das Ruhegeld nach 45 Jahren Beschäftigung, heute vom liberalen Mittelstandsflügel der Union kritisiert, ist ein gemeinsames Kind der großen Koalition unter der Verantwortung der CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Die Mütterrente ist eine Erfindung der CSU, sie holte damit „dahoam“ Mehrheiten. Zuletzt hat Markus Söder sie noch an diesem Sonntag verteidigt – obwohl es ein soziales „Goodie“ ist, das die Rente noch weiter gen Abgrund schiebt.

Das Bürgergeld für Flüchtlinge aus der Ukraine, gegen das nun Söder und CDU-Politiker wie Sachsens Regierungschef Michael Kretschmer aus allen Rohren schießen, hat ebenfalls die Union selbst mit eingeführt. Gewarnt haben Experten davor auch schon 2022, als es eingeführt wurde. Die Union hat die Warnungen ignoriert. Es galt: Humanität zuerst. Oft genug galt in der Union: Sozialstaat vor ökonomischer Vernunft. Die Union ist allenfalls drittel-liberal.

Auch Merkel hatte alle Warnungen in den Wind geschlagen

Im Grunde war es 2022 mit den Ukrainern nicht anders als bei der sogenannten Grenzöffnung Merkels 2015. Auch Merkel hatte alle Warnungen – und es gab reichlich davon, unter anderem von der Bundespolizei – in den Wind geschlagen. Und auch bei den Ukrainern, die vor Putins Soldateska davonliefen, hätte man es auch als Union besser machten können.

So wie die Polen, die nach wenigen Monaten schon die Sozialleistungen an ukrainische Flüchtlinge drastisch reduzierten. Oder die Schweden, die sofort bei Inkraftsetzen der europäischen Massenzustromrichtlinie, mit der für Ukrainer das komplizierte Asylrecht suspendiert wurde, erklärten, der schwedische Staat habe „hohe Erwartungen“ an die Flüchtlinge. Sie müssten arbeiten, und zwar sofort – erklärte die sozialdemokratische (!) Regierung.

Die Deutschen sagten, die Ukrainer sollten erst einmal Deutsch lernen. Sie mussten nicht arbeiten, kriegten aber sofort hohe Sozialleistungen – heute arbeiten im europäischen Vergleich in Deutschland die wenigsten Ukrainer. Eine direkte Folge von: Social first, economy second.

Die Union ist ebenso verantwortlich wie die SPD für diese Fehlsteuerung des Sozialstaats – schlimmer noch: sie ist sehenden Auges in die Malaise gelaufen. Und das hat aktuell Folgen.

Die SPD hat keinen Müntefering mehr, keinen Clement 

Wenn Unionsleute jetzt der SPD erklären wollen, wie der Sozialstaat besser funktioniert, haben sie ein schlechtes Blatt auf der Hand für den anstehenden Koalitionspoker. Als Sozialstaatsreformer haben die Sozialdemokraten tatsächlich einen weitaus besseren „Record“:

Weshalb nun auch Fraktionsvize Carsten Linnemann an Altkanzler Gerhard Schröder und dessen Hartz-Reformen erinnert. Nicht nur strengere Arbeitsmarktregeln für Stütze-Empfänger: Auch die Ausweitung der Lebensarbeitszeit war eine sozialdemokratische Idee: Das war Franz Müntefering – der als führender SPD-Mann damit eine Rentenkürzung (nichts anderes ist die Verlängerung der Lebensarbeitszeit) durchdrückte.

Linnemann erinnert, um die Sozialdemokraten unter Druck zu setzen, an Gerhard Schröder, den Sozial-Kürzungskanzler. Kann man machen, nur: Damals waren die Kassen leer, der Staat war pleite, und darum beauftragte Schröder seinen engsten Adlatus Frank Walter Steinmeier, eine Brutal-Liste zu machen, wo der Staat sparen könnte.

Merz sitzt in der Psycho-Falle 

Heute ist es aber anders herum: Die Sozialkassen sind zwar wieder pleite, allerdings weiß das „da draußen“ niemand. Verantwortlich dafür ist ein christdemokratischer Bundeskanzler, der die höchsten Schulden in der deutschen Geschichte aufnahm, womit er ein großes Wahlversprechen brach.

Damit baute sich Merz als Reformer selbst eine Falle: Wenn man zuerst den Eindruck erweckt, der Staat habe genug Geld für jede Straße und jede Schule, wie soll man dann die Bevölkerung bewegen, bei Rente oder Stütze zu sparen?

Diese Psycho-Falle hat Merz nicht bedacht, als er mit einer Mehrheit im parlamentarischen Niemandsland zwischen zwei Regierungen seine Schulden-Sünde beging.

„Wir müssen begreifen, dass jetzt das Fenster offen steht für Reformen“, sagte Linnemann der "FAZ". Es gibt aber nun einen weiteren Unterschied zur Schröder-Zeit, einen entscheidenden: Schröder ist weg, und einen neuen Schröder gibt es nicht. Klingbeil ist nicht so einer, und Bärbel Bas hat nicht im Kreuz, was Müntefering im Kreuz hatte. Und nach einem Wolfgang Clement sucht man in der SPD weit und breit vergebens. Die SPD will wieder, wie vor Schröder unter Oskar Lafontaine, die Partei der Besserverdiener-Schröpfer sein.

Deutschland droht im Herbst ein politischer Basar

Angesichts der Wehleidigkeit, mit der SPD-Politiker im Bundestag schon die Mini-Reform beim Familiennachzug (ohnehin nur für die Kleinstgruppe der subsidiär Schutzbedürftigen) begleitete: Die SPD hat heute auch keinen Otto Schily mehr wie damals Schröder.

„Besserverdiener“ wollen die Sozialdemokraten mit neuen Steuern traktieren, sie verschweigen, dass der Sozialstaat vor allem von deren Spitzen-Steuern lebt. Sie sinnieren über höhere Belastungen – auf Vermögen, auf Einkommen, auf die Rente – sie lassen so gut wie nichts aus. Es geht inzwischen in der Inkasso-Partei SPD nach dem Döner-Prinzip: „Einmal mit alles.“

Und so bahnt sich für den Herbst in der Koalition von Friedrich Merz und Lars Klingbeil ein großes Kuddelmuddel an, eine Art orientialischer Basar, seltsame Geschäfte inklusive. Ein Menü nach dem Motto: Ein Karlsruher Duett aus Frauke Brosius-Gersdorf und Ann-Kathrin Kaufhold (die beiden umstrittenen SPD-Kandidatinnen fürs Verfassungsgericht), begleitet vom Verzicht auf Steuererhöhungen, verfeinert durch einen Hauch von Bürgergeld-Reform, ukrainisch gewürzt.

Guten Appetit.