Der Oktober scheint ein besonderer Monat für Friedrich Merz zu sein. Vor fast exakt 25 Jahren, am 18.10.2000 sorgte er schon einmal für ein Aufregerthema zum Thema Migration. In der Rheinischen Post forderte er von Zuwanderern, sich „einer gewachsenen freiheitlichen deutschen Leitkultur“ anzupassen.
Ein Aufschrei ging durch die Gesellschaft. Denn das Migrationsthema war um die Jahrtausendwende politisch ähnlich brisant wie heute. Gerhard Schröder startete seine Greencard-Kampagne, um ausländische IT-Fachkräfte anzuwerben – woraufhin Jürgen Rüttgers im NRW-Wahlkampf „Kinder statt Inder“ plakatieren ließ.
Aktuell wiederholt sich die Geschichte
Die Leitkultur-Debatte vor einem Vierteljahrhundert ähnelt in vielerlei Hinsicht der aktuellen Stadtbild-Diskussion. Mit einer bemerkenswerten rhetorischen Unklarheit ließ Merz damals offen, was er genau mit dieser Leitkultur meinte. So wurde die Leitkultur-Debatte schnell zum Klamauk. In Talkshows diskutierte man, ob nun Weißwurst oder Spätzle deutscher seien.
Das Problem: Die Leitkulturfrage wurde nie aus der politischen Mitte beantwortet. Im Gegenteil: Sie wurde verneint. Noch 2015 argumentierte der damalige SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann, dass es „in Deutschland keine Leitkultur geben kann“. So unbeantwortet überlies man diese wichtige Frage dem Populismus, der mittlerweile seine ganz eigenen Antworten darauf gegeben hat.
Aktuell wiederholt sich die Geschichte. Als hätte Friedrich Merz nichts gelernt, raunt er wieder mehr als zu klären. Was soll das „Problem im Stadtbild“ sein? Hätte er gesagt: „Wir haben in Innenstädten ein Problem mit Kriminalität, wir wollen, dass Weihnachtsmärkte nicht mehr durch Poller geschützt werden müssen, dass es zu Neujahr keine pyrotechnischen Kampfzonen gibt, dass migrantische Straftäter schnell und konsequent abgeschoben werden und dass sich die sexuellen Übergriffe auf der Kölner Domplatte 2015 niemals wiederholen“, wohl jeder hätte zugestimmt.
Die Debatte wird verlagert
Doch er tat es nicht. Stattdessen gab er Raum für Spekulation. Die Grünen ließen sich nicht lange bitten und starteten sofort mit dem Maximalvorwurf des Rassismus. Fraktionschefin Katharina Dröge: „Wie sieht man denn das ,Problem‘ – außer an der Hautfarbe der Menschen?“.
Nun, als Frankfurter fallen mir spontan einige optische Signale und Verhaltensweisen jenseits der Hautfarbe auf, die auf ein Problem im Stadtbild hinweisen. Ein herbstlicher Spaziergang im Bahnhofsviertel genügt dafür.
Apropos Bahnhofsviertel: Es ist wohlfeil, eine Demonstration für städtische Vielfalt in einer urbanen Yes-Go Area wie polizeigesicherten Marktplätzen oder vor der CDU-Parteizentrale zu halten – und eben nicht in der Dortmunder Nordstadt oder Duisburg-Marxloh.
Es zeigt vor allem eines: dass man die Debatte verlagert, sich eben nicht dem Problem städtischer Kriminalität stellt, sondern Friedrich Merz zur Hassfigur inszeniert. Wie in der Leitkultur-Debatte vor 25 Jahren sind die Reflexe heute dieselben.
Polemisierung (Eltern fragen ihre Grundschultöchter, was sie vom Stadtbild halten), Vorwurf des Rassismus, Lächerlichmachung (Katrin Göring Eckart postet Dönerfotos, um das Stadtbild zu illustrieren, erntet dafür jedoch selbst einen Shitstorm für das Bedienen von Klischees), Whataboutism (nicht Geflüchtete, sondern Männer sind das Problem) und ein Abdrängen der Merz-CDU in den illegalen rechten Raum. Die Grünen in Castrop-Rauxel haben Merz wegen Volksverhetzung angezeigt. Eine Nummer kleiner ging es leider nicht.
Wer Merz attackieren möchte, nennt ihn einen Spalter
Wenn Debatten persönlich werden, fällt das Thema unter den Tisch: Laschet kritisiert Merz für seine „nebulöse“ Aussage, Klingbeil wirft ihm „Spaltung durch Sprache“ vor, der DIW-Chef Marcel Fratzscher gar, dass Merz „erheblichen wirtschaftlichen Schaden“ anrichte.
Wie groß war die gesellschaftliche Empörung, als nach dem Messerangriff in Aschaffenburg, der Amokfahrt in München, der Messerattacke in Solingen herauskam, dass mehrfach vorbestrafte ausreisepflichtige Migranten eben nicht abgeschoben worden waren? Wer Merz verstehen möchte, unterstellt ihm, diese Bilder im Kopf gehabt zu haben. Wer ihn attackieren möchte, nennt ihn einen Spalter, Rassisten, Nazi.
Jede politische Bewegung braucht zu Beginn eine Idee. Doch um die Anhänger zusammenzuschweißen, braucht man irgendwann ein Feindbild. Für die AfD war es Angela Merkel (Friedrich Merz eignet sich offenbar weniger gut für rechtspopulistische Attacken). Für die politische Linke ist es Friedrich Merz. In beiden Fällen ist es Populismus und es ist erstaunlich, dass Merz‘ linke Gegnerschaft nicht versteht, was sie anrichten könnte: Sie könnte das zerstören, was sie beschützen will: die freiheitliche Demokratie nämlich.
Die AfD ist auffallend ruhig in der Debatte
Fällt Ihnen auf, wer derzeit auffallend ruhig in der Debatte ist? Die AfD. Denn ihr kann gerade nichts Besseres passieren, als dass ihr politischer Hauptgegner, die CDU nämlich, emotional von Grünen, Linken und SPD zerlegt wird. Seit ihrer Gründung inszeniert sich die AfD als die „wahre“ konservative Alternative zur CDU. Jede weitere Demontage der konservativen Volkspartei spielt ihr in die Karten.
Was Rezo vor sechs Jahren nicht gelang, könnte nun passieren: die CDU wird Stück für Stück zerrieben. Nicht, indem man sie inhaltlich stellt (wie es Rezo versuchte), sondern indem man sie emotional zerstört. Es klingt paradox, aber die „Omas gegen Rechts“, die Stadtbild-Demonstranten und der „Aufstand der Anständigen“ könnte genau zum Machtgehilfen der AfD werden.
Kein AfDler protestiert vor der CDU-Parteizentrale. Sollen doch die restlichen Bundestagsparteien diese bildmächtige Arbeit übernehmen. Lass die anderen sich zerfleischen – und bleib so, wie du bist. Die AfD weiß ganz genau, warum sie nur zu warten braucht. Dass politische linke Parteien nicht verstehen, dass die CDU ihr wichtigster Verbündeter im Kampf für Demokratie ist, könnte sich noch als historischer Fehler entpuppen. Was ist dieser Debatte zu wünschen?
Demokratien ohne konservative Mitte werden von Populisten beherrscht
Erstens: Friedrich Merz sollte aus seinen rhetorischen Schwächen lernen. Er muss Probleme klar benennen, denn sie sind für die Menschen relevant. Nicht ohne Grund stimmt laut ZDF-Politbarometer eine Mehrheit Friedrich Merz‘ Aussagen zu (was auch immer diese genau waren). Doch eine Präzisierung der Probleme täte der Sache gut.
Zweitens: Jeder, der sich fragt, was passiert, wenn man eine konservative Mitte zerstört, darf gerne in andere Länder schauen. Nach Brasilien zum Beispiel, wo eine Politik wahlweise zwischen ideologisch links und populistisch rechts taumelt. Oder nach Frankreich, wo sich die Parteien derart zerstritten haben, dass Kompromisse praktisch unmöglich geworden sind.
Ein Szenario, dass auch für Deutschland nicht unabsehbar ist. Wie sähe eine Politik aus, wenn AfD mit über 30 und die Linke mit 15 Prozent eine parlamentarische Mehrheit hätten? Wir sollten nicht vergessen: Demokratien ohne konservative Mitte werden von Populisten beherrscht. Oder versinken unregierbar im Chaos.
Wir brauchen eine ähnliche Coolness wie früher
Drittens sollten wir weniger rhetorische Haarspalterei betreiben. Ja, Friedrich Merz war ungenau. Aber welche Kraft dieses Land in den letzten Tagen aufgewendet hat, um Proteste jenseits des eigentlichen Problems zu führen, ist bemerkenswert. Können wir überhaupt noch abgeklärt über Probleme im Stadtbild sprechen, auch über Kriminalität von Migranten, ohne gleich den Rassismus-Vorwurf zu hören?
Oder ist dieser Begriff nun verbrannt wie die Leitkultur-Frage, die dem Populismus überlassen wurde, weil man sich um ihre Beantwortung drückte? „Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Debatte unsere Gesellschaft weiter bringt. Vielleicht soll sie das auch nicht. Sie klärt nichts, jedenfalls keinen Sachverhalt. Derart verquaste Begrifflichkeit lenkt nur vom eigentlichen Thema ab.
Das eigentliche Thema in unserer Gesellschaft heißt: Was ist die Basis, auf der Deutsche und Nicht-Deutsche bei uns in unserem Land friedlich miteinander leben können und leben sollen?“ Klingt nach einem aktuellen Aufruf? Ist schon 25 Jahre alt, als Gerhard Schröder für Souveränität in der Leitkultur-Debatte sorgte. Eine ähnliche Coolness brauchen wir heute.
Henning Beck, Jahrgang 1983, studierte Biochemie in Tübingen und wurde im Fach Neurowissenschaften promoviert. Er arbeitete an der University of California in Berkeley und publiziert regelmäßig unter anderem in der „Wirtschaftswoche“ und bei Deutschlandfunk Nova. Er hält Vorträge zu Themen wie Hirnforschung und Kreativität. Zuletzt erschien von ihm der Bestseller „12 Gesetze der Dummheit. Denkfehler, die vernünftige Entscheidungen in der Politik und bei uns allen verhindern“. Gemeinsam mit Quiz-Champion Sebastian Klussmann diskutiert Beck jeden Dienstag aktuelle Debattenthemen im Podcast „Das Duell der Besserwisser“.