Kempten: Wie diskriminierend ist der Wohnungsmarkt?

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Die drei Diskutanten auf dem Podium bekommen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt oft hautnah mit. Kai Nitsche (l.) bringt beim SJR-Projekt „Lebens(t)raum“ junge Menschen und Vermieterinnen und Vermieter zusammen. Sabine Lurz Bianco (M.) von der Diakonie Allgäu unterstützt Menschen mit Migrationsgeschichte auf der Suche nach einer Wohnung und Rüdiger Leibfried leitet (r.) den Bereich „Allgemeine Sozialarbeit“ bei der Diakonie Allgäu. Sein Schwerpunkt ist die armutsorientierte Beratung. © Lüderitz

Der Bewegte Donnerstag im Dezember stellte die Frage „Wohnen ist ein Menschenrecht – Wie diskriminierend ist unser Wohnungsmarkt?“. Bei der Podiumsdiskussion mit sehr reger Publikumsbeteiligung kamen neben Erfahrungsberichten und Problembeschreibungen auch Lösungsansätze zur Sprache.

Kempten – „Ich habe mich der Diskriminierung schuldig gemacht“, sagte eine Dame. Nach einer schlechten Erfahrung mit einem Mieter habe sie sich gedacht, „nie wieder vermiete ich die Wohnung“ an einen Mann dieser Herkunft. Sie schilderte ihren Zwiespalt zwischen ihrem Anspruch, nicht zu diskriminieren, und der Angst vor Ärger.

Prof. Dr. Francis Seeck forscht, publiziert und lehrt zu Klassismuskritik, politischer Bildung, Antidiskriminierung und menschenrechtsorientierter sozialer Arbeit. Sie dankte der Dame für ihren ehrlichen Kommentar. „Es ist immer wichtig, bei sich selbst anzufangen und nicht von einzelnen Erlebnissen direkt auf eine ganze Gruppe zu schließen.“

Diskriminierung kann in verschiedene Kategorien eingeteilt werden, führte sie aus: Neben Rassismus gibt es etwa Benachteilung aufgrund der Religion, des Alters, einer Behinderung oder aufgrund des sozialen Status – den sogenannten „Klassismus“. Oft sind wohnungslose Menschen, Armutsbetroffene, Menschen ohne Schulabschluss oder Sozialleistungsempfängerinnen und Empfänger von Klassismus betroffen. Dabei spielen nicht nur Geld, Einkommen und Eigentum eine Rolle, sondern auch das kulturelle Kapital, also Schulabschlüsse und welche Regeln eine Person kennt oder die sozialen Kontakte – Stichwort Vitamin B – sowie das symbolische Kapital: Wohnt eine Person an einer renommierten Adresse oder nicht? Trägt sie einen Adels- oder Doktortitel im Namen? Der sogenannte „Kevinismus“ bezeichnet die Diskriminierung allein aufgrund des Namens.

Erster Schritt: Anerkennung von Klassismus als Diskriminierung

„Klassismus ist noch nicht als Form der Diskriminierung anerkannt“, erläuterte Seeck. Er sei oft in Wohnungsanzeigen sichtbar. Berlin sei recht fortschrittlich. Dort sei der soziale Status verankert im Landesantidiskriminierungsgesetz. Und die Berliner Fachstelle gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt bietet praktische Beratungshilfen, Schulungen und Fortbildungen.

„Warum kann der Staat Land verkaufen?“, fragte ein Herr aus dem Publikum, „es sollte nur noch Erbpacht geben. Bei Staatseigentum könnte man nicht mehr spekulieren.“ Das sei gerade in Bayern ein wichtiges Thema, erklärte Seeck. In Berlin habe die Mehrheit beim Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co enteignen“ für die Verstaatlichung gestimmt. „Die Frage lautet: Wie kann man so etwas hier in Bayern anstoßen?“, regte sie an.

Auf den Impuls von Moderator Lajos Fischer, was menschenwürdiges Wohnen bedeutet, schilderten die Diskutanten auf dem Podium ihre Erfahrungen in ihrem jeweiligen Tätigkeitsbereich. Sabine Lurz Bianco arbeitet beim Projekt ­„WoFA – Wohnraum für Alle“ der Diakonie, das das Ziel hat, die Chancen von Menschen mit Migrationsgeschichte auf eine Mietwohnung zu erhöhen und diese bei der Vermittlung unterstützt, sowie Kurse gibt zu den hiesigen Gepflogenheiten in Sachen Wohnen. Lurz Bianco hat schon viele Geflüchtetenunterkünfte gesehen und dort teils schon gearbeitet. „Das waren Container, belegt mit vier Menschen in Stockbetten.“ Für die Beratung war kein Platz. Kinder fanden keine Ruhe für die Hausaufgaben. „In einer Geflüchteten­unterkunft gibt es keine Kindergeburtstage, es würde niemand seine Kinder schicken“, sagte sie. Ihrer Meinung nach geht es bei der Frage nach menschenwürdigem Wohnen nicht um die Quadratmeterzahl, sondern darum, „Strukturen zu schaffen für Anbindung an die Gesellschaft“. Sie wünscht sich mehr Wohnraum, um das zu ermöglichen.

1.050 Wohnungen stehen leer in Kempten

Lurz Bianco stellte die Verhältnisse in Kempten dar, die der Mikrozensus für das Jahr 2022 aufzeigt. Demnach gibt es in der Stadt 36.000 Wohnungen, von denen sich 23.000 in privater Hand befinden. 1.051 standen 2022 leer. Gleichzeitig suchten dort 140 Haushalte à drei bis vier Personen teilweise schon mehrere Jahre eine Wohnung, die in Geflüchtetenunterkünften lebten, sich aber auf dem Wohnungsmarkt schwertun. Die Hauptgründe seien die Sprache, aber auch die Digitalisierung und das Fehlen von Endgeräten.

Bei den ordnungsrechtlichen Unterbringungen wohnungsloser Menschen wie in der Reinhartser Straße handelt es sich nicht um „Wohnen“, sondern um „Unterbringung“, differenzierte Rüdiger Leibfried, er ist Bereichsleiter der Allgemeinen Sozialen Arbeit bei der Diakonie Allgäu und dort ständig konfrontiert mit dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Er war bereits an der Errichtung einiger Fachstellen beteiligt, unter anderem an der der Wohnungsnotfallhilfe, die an der Reinhartser Straße berät (der Kreisbote berichtete). Die Nutzungsvereinbarung der Stadt mit den dort ordnungsrechtlich untergebrachten Menschen gilt für sechs Monate mit der Erwartung, dass man dann wieder Fuß gefasst hat und eine Wohnung findet. „Das gelingt den Allerwenigsten“, sagte Leibfried. Da laute die Frage: Unter welchem Standard lebt man? Ein wichtiges Kriterium von Wohnen sei die Privatsphäre. „Habe ich die, wenn ich mir den Wohnraum teile mit zwei bis drei anderen, und wenn ich nur einen Stuhl und ein Bett habe?“ In den „Empfehlungen für das Obdachlosenwesen“ sei festgelegt, dass eine Unterbringung menschenwürdig erfolgen soll. „Aber es ist nicht genau definiert, wie das auszusehen hat“, gab Leibfried Einblick.

Kai Nitsche leitet das Projekt „Lebens(t)raum“ beim Stadtjugendring Kempten mit dem Ziel, jungen Menschen Wohnraum zu vermitteln und langfristig zu sichern. Der studierte Politikwissenschaftler und Sozialarbeiter fungiert dabei als Schnittstelle zwischen Vermieterinnen und Mietern. Die Zielgruppe sei sehr divers von Auszubildenden bis jungen Menschen, die aus der Jugendhilfe herausfallen oder gerade aus der Psychiatrie kommen und nicht wissen, wie es nun weitergehen soll. Nitsche trifft sich auch mit ihnen, nachdem eine Wohnung bezogen wurde, um zu besprechen, was sie brauchen, um das Wohnverhältnis langfristig zu stabilisieren. „Wir haben junge Leute, die in WGs wohnen, die einzeln wohnen. Letztes Jahr entstand das erste Mehrgenerationenwohnen, bei dem ein junger Mensch eine Zeit lang mit einem Über-80-Jährigen zusammengewohnt hat“, erzählte er.

Es braucht Mut und eine Telefonnummer

Ein Zuhörer sprach Nitsche auf sein Rezept an unter Verweis auf dessen großen Erfolg. „Welches Argument überzeugt am meisten, dass jemand so einem schwierigen Klientel seinen Wohnraum öffnet?“ Das sei die Erreichbarkeit. Wer ist da, wenn etwas schiefläuft? Wer löst die Situation auf? „Dieser Dialog braucht manchmal Unterstützung oder einen Rahmen“, so der Projektleiter. Viele Vermieterinnen oder Vermieter stimmen dann einer Testphase zu. Weiterhin finden Gespräche statt, um zu sehen, ob alle Bedürfnisse noch zusammenpassen. Wenn sich das Mietverhältnis von allen Seiten stabil anfühlt, zieht sich Nitsche zurück. Manchmal seien auch die Erwartungen auf beiden Seiten etwas hoch. Aber er stehe für Dialog und Unterstützung bereit.

Wohnpaten in Augsburg

Wie wichtig ein vermittelnder Ansprechpartner ist, unterstrichen auch die anderen Diskutanten auf dem Podium. Privatleute könnten hier Unterstützungsarbeit leisten, indem sie ein gutes Wort einlegen oder bürgen. Nitsche berichtete von einem Wohnpatenprojekt in Augsburg, bei dem die Patinnen und Paten etwa helfen, Unterstützungsgelder zu beantragen oder schlicht zeigen, wie der Müll getrennt wird. Rüdiger Leibfried sprach die Helferkreise aus 2015 an, bei denen viele auch nach der Vermittlung einer Wohnung noch erreichbar waren. „Das war extrem hilfreich, um Wohnraum zu halten.“ Sabine Lurz Bianco wies darauf hin, dass man sich auch beim Projekt „Wohnraum für Alle – WOFA“ freiwillig engagieren könne, zum Beispiel bei der Suche nach Wohnungsannoncen oder bei Umzügen. Sie erklärte, dass Ehrlichkeit in der Kommunikation mit Vermietenden sehr wichtig sei. „Denn Vermieten ist Vertrauenssache.“ Beim Projekt bietet sie den Klienten Beratung zu wichtigen Punkten beim Mieten und Wohnen an. Das können zum Beispiel Rollenspiele sein, wie man ein Übergabeprotokoll erstellt, Beratungen und Hausbesuche zum richtigen Heizen, Lüften und Möbelstellen oder ein Mietkurs.

Immer wieder brachte das Publikum die Sprache auf die Rolle des Staates, der Wohnbaugesellschaften und der Stadt bei der Errichtung von bezahlbarem Wohnraum. „In den neuen Projekten der Sozialbau ist keine einzige Sozialwohnung drin“, entrüstete sich ein Zuhörer. „In München entstehen 4.000 Sozialwohnungen, was entsteht in Kempten?“ Der generellen Forderung, dass es mehr bezahlbaren, staatlichen Wohnungsbau geben sollte, stimmte auch Francis Seeck zu.

Der Zuzug saugt die Neubautätigkeit „wie ein Schwamm“ auf

Leibfried nannte die relativ günstige Vermietung von Wohnungen im Bestand bei den drei großen Kemptener Wohngesellschaften „ein großes Plus“. Zudem hätte eine rege Bautätigkeit begonnen, wodurch sich aber der Wohnungsmarkt nicht entspannt hätte. Beim „Kemptener Modell“ der Sozialbau würden Wohnungen neu gebaut zu marktüblichen Preisen. „Es gibt da noch ein Förderfenster, zu dem etwas günstiger gemietet werden kann, aber nicht im wirklichen sozialen Wohnungsbau“, so der Mann von der Diakonie. Gleichzeitig wird die Sozialbindung bei Bestandswohnungen verlängert, wo sie ansonsten wegfallen würde. „In der Bilanz passt es, aber der für die Menschen, die wirkliche Schwierigkeiten auf dem Wohnungsmarkt haben, ist die Situation unverändert schwierig.“ Wie Lurz Bianco erläuterte, seien die allermeisten von ihren Klienten, die 2024 eine Wohnung gefunden haben, bei der Sozialbau, der BSG und der Baugenossenschaft fündig geworden.

„Gemeinschaftsräume schaffen in Unterkünften, öffentlichen Raum nutzen, Familien mit Kindern auf dem Land unterbringen, wo weniger Leute wohnen“, lenkte Moderator Fischer die Diskussion auf kreative Ideen. Rüdiger Leibfried schlug eine Art soziale Wohnraumagentur in öffentlicher Hand ohne finanzielles Interesse vor, die Familien mit Menschen zusammenbringt, die von ihrem zu großen Wohnraum überfordert sind. Sabine Lurz Bianco wünschte sich eine einkommensorientierte Förderung. „Wohnraum muss bewirtschaftet werden!“, sagte sie. Dass man deutlich kreativer werden müsse, um dem Problem der Wohnraumknappheit zu begegnen, zum Beispiel mit Zwischennutzung, fand auch Kai Nitsche. Er erzählte davon, dass sich in Oberdorf gerade ältere Pärchen bei einem Mietshaussyndikat zusammentun, um ihre Häuser für junge Familien freizumachen. „Man muss Mut haben und manchmal einfach machen, aber es fängt mit Sprechen an“, sagte er.

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