Studie aus Sicht von Betroffenen: Diskriminierung ist Alltag in Kempten
In Kempten wurde der erste Bericht über Diskriminierungserfahrungen aus der Sicht der Betroffenen erstellt. Der Autor, Abdulrahman Alshalaby, hat im Auftrag des Integrationsbeirats und mit der finanziellen Unterstützung des Programms „Demokratie leben!“ zwischen Juli 2023 und Januar 2024 eine ausführliche Online-Umfrage durchgeführt und die Ergebnisse in einem mehr als 70-seitigen Arbeitspapier mit wissenschaftlichem Anspruch zusammengefasst. Alshalaby stellte jetzt die Studie in einem Workshop vor Fachleuten vor.
Kempten – Im Kapitel „Interkulturelle Öffnung“ des im Herbst 2021 vom Stadtrat verabschiedeten Kommunalen Integrationskonzepts steht: „Rassismen und Diskriminierung werden nicht toleriert. Diesen wird auf allen Ebenen entgegengewirkt. Maßnahmen vor Ort: 1. Es werden Strategien und Handlungsansätze zur Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus entwickelt. Eine Anlaufstelle gegen Diskriminierung und Rassismus wird angestrebt. 2. Es werden unterschiedliche Formate zur Sensibilisierung und Prävention von Diskriminierung und Rassismus durchgeführt.“
Die jetzt erstellte Studie geht einen Schritt zurück: Sie will als Grundlage für die versprochenen Maßnahmen empirische Daten liefern. „Entsprechende Handlungsmöglichkeiten für die Antidiskriminierungsarbeit werden im Nachgang an diese Arbeit in partizipativen Formaten erarbeitet und hinzugesetzt“, heißt es am Ende des Textes.
Der vielseitig engagierte Abdulrahman Alshalaby ist in Kempten kein Unbekannter. Der 33-Jährige lebt seit 2017 in der Stadt, vor kurzem hat er seinen Master „Management im Sozial- und Gesundheitswesen“ an der Hochschule Kempten mit Auszeichnung abgeschlossen. Beim ebenfalls von „Demokratie leben!“ und vom Bayerischen Integrationsministerium geförderten Projekt „Aktiv(ierend)e Antidiskriminierungsarbeit in Bayern“ bei der AGABY (Arbeitsgemeinschaft der Ausländer-, Migranten und Integrationsbeiräte Bayerns) absolvierte er vor kurzem eine Schulung zum „Sprecher gegen Diskriminierung“.
Nun stellte er die Ergebnisse der in Kempten durchgeführten Studie beim Workshop des Netzwerks Integration vor.
Die Befragung kann nicht als repräsentativ bezeichnet werden, dafür reichten die vorhandenen Ressourcen nicht aus. Aber ihre Analyse gibt wichtige Anhaltspunkte zur Diskussion und für das zukünftige Handeln. Die Studie nennt, erstmalig in Kempten, in der Öffentlichkeit genau die Themen, die Menschen beschäftigen, die in ihrem Alltag Diskriminierung und Rassismus erfahren haben.
359 Personen nahmen an der Umfrage teil, 231 von den ausgefüllten Fragebögen konnten bei der Bewertung berücksichtigt werden. Die anderen seien wegen ihrer Unvollständigkeit aussortiert worden. 97 Personen (42 Prozent der Befragten) gaben an, in den letzten beiden Jahren Diskriminierungserfahrungen gemacht zu haben.
Diskriminierung in Kempten: Wer ist am stärksten betroffen?
Die beiden Personen, die sich als „jüdisch“ bezeichneten, gaben an, Diskriminierungserfahrungen gemacht zu haben. Bei Persons of Color (PoC) liegt der Wert bei 71 Prozent, in den Kategorien „Asiatisch-Deutsch“ bei 67 Prozent, „Schwarz“ bei 56 Prozent, „Latino“ bei 50 Prozent, „muslimisch“ bei 47 Prozent, „ukrainisch“ bei 43 Prozent und „weiß“ bei 39 Prozent.
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Mithilfe der Methode der logischen Regression stellt Alshalaby fest, dass die Wahrscheinlichkeit, Diskriminierung zu erfahren, bei weiblichen Personen um 108 Prozent, bei Menschen mit Migrationsgeschichte um 88 Prozent und bei Personen, die sich selbst als PoC bezeichnen, um 294 Prozent höher sei als in den Gruppen ohne diese Merkmale.
Bei Menschen mit Hochschulabschluss sei der Anteil derer, die Diskriminierung erlebten, am höchsten (51 Prozent), bei Leuten ohne Schulabschluss am niedrigsten (36 Prozent).
„Gründe“ der Diskriminierung
Die Frage, aufgrund welcher Merkmale sie Diskriminierung erlebt hatten, beantwortete 48 Prozent der 97 Betroffenen mit Herkunft; 36 Prozent gaben Geschlecht, 28 Prozent Migrationsgeschichte, 20 Prozent geringes Einkommen, 18 Prozent Hautfarbe, 14 Prozent Alter, 13 Prozent Religion/Weltanschauung, 9 Prozent sexuelle Orientierung, 9 Prozent Behinderung/chronische Krankheit an.
Diskriminierung in Kempten: Schwerpunkte in den Bereichen Wohnen, Bildung, Polizei
Die Antworten auf die Frage, in welchen Lebensbereichen die Befragten Diskriminierung erfahren haben, sind auch deswegen interessant, weil sie mit bundesweiten Werten (allerdings aus 2017) verglichen werden können. Auffällig hoch sind die Werte in Kempten in den Bereichen Wohnungsmarkt mit 34 Prozent (Bund: 14 Prozent), Bildung mit 32 Prozent (Bund: 17 Prozent), Polizei mit 29 Prozent (Bund 13 Prozent) und Internet/Medien mit 28 Prozent (Bund: 21 Prozent).
Besser als im Bundesdurchschnitt sieht es in den Sparten Öffentlichkeit/Freizeit mit 25 Prozent (Bund: 48 Prozent), Arbeitsleben mit 32 Prozent (Bund: 49 Prozent), Ämter/Behörden mit 21 Prozent (Bund: 32 Prozent) und Zugang zu Geschäften/Dienstleistungen mit 28 Prozent (Bund 35 Prozent) aus. In den Bereichen Gesundheit und Pflege liegt Kempten mit 26 Prozent nahe dem Bundestrend (29 Prozent).
Bei den Diskriminierungsformen liegen Gespräche, in denen der/die Betroffene ausgegrenzt, ignoriert, beleidigt wurde, mit 92 Prozent auf dem „Spitzenplatz“, gefolgt von herabwürdigenden Darstellungen mit 75 Prozent. 65 Prozent der Betroffenen wurden Rechte verwehrt, die andere Personen haben und 64 Prozent mussten unerwünschte sexualisierte Kommentare über sich ergehen lassen.
61 Prozent erlebten eine Ablehnung auf dem Wohnungs- bzw. Arbeitsmarkt als diskriminierend. 52 Prozent berichten darüber, ohne Verdacht von der Polizei oder vom Sicherheitspersonal kontrolliert worden zu sein („Racial Profiling“). Fast 40 Prozent kreuzten an, dass sie körperlich bedroht und angegriffen wurden.
Diskriminierung: Ignorieren oder zur Sprache bringen?
Die meisten versuchten im ersten Moment das Erlebte zu ignorieren (66 Prozent). Die knappe Hälfte fühlte sich zu eingeschüchtert und geschockt, um unmittelbar reagieren zu können. Wut und Empörung empfanden 22 Prozent der Betroffenen. 34 Prozent haben das diskriminierende Verhalten direkt angesprochen und 11 Prozent andere Anwesende auf das gerade Geschehene aufmerksam gemacht. Das sei besonders wichtig, meinte Stadträtin Gerti Epple (Grüne), weil manche erst dadurch merken, dass ihr Verhalten diskriminierend sei.
Im späteren Verlauf erstatteten nur 2 Prozent eine Anzeige und 12 Prozent legten eine offizielle Beschwerde ein. 6 Prozent kündigten ihr Arbeitsverhältnis. Die häufigste Reaktion ist, Orte der Diskriminierung (36 Prozent) und die diskriminierende Person (27 Prozent) zu meiden. Ein Zehntel hat Beratung oder therapeutische Hilfe in Anspruch genommen.
Der Umgang mit Diskriminierung sei in Kempten defensiver als im Bundesdurchschnitt, institutionelle Hilfe spiele hier eine kleinere Rolle, sagte Alshalaby in seinem Fachvortrag. Das könnte damit zu tun haben, dass es in Kempten keine Anlaufstelle gebe, erwiderte Esmeral Hohm (Migrationsberatung Rotes Kreuz).
Die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben, aber auch mit dem demokratischen System in Deutschland seien bei den Personen mit Diskriminierungserfahrung niedriger, stellt die Studie fest. Es wird ausführlich dargestellt, dass Personen ohne Diskriminierungserfahrung größeres Vertrauen in Institutionen wie Polizei, Gerichte, Behörden, Stadtrat, Beratungsstellen haben als diskriminierte.
Während 70 Prozent der Nicht-Diskriminierten sich in der Stadt wohl und geschätzt fühlen, liegt dieser Anteil bei den Diskriminierten bei 42 Prozent. Nur 25 Prozent der Menschen mit Ausgrenzungserfahrung fühlen sich in Kempten ausreichend vor Diskriminierung geschützt, in der Kontrollgruppe sind es 72 Prozent.
In Kempten „alltäglich und folgenreich“
„Diskriminierungen sind alltägliche und folgenreiche Erfahrungen in Kempten“, fasste Alshalaby die Ergebnisse der Befragung zusammen. Das könne sie bestätigen, berichtete Sabine Lurz Bianco (Diakonie Allgäu) aus der Migrationsberatung, ihre Gesprächspartner erzählten regelmäßig von Diskriminierung, die sie selbst oder ihre Kinder erlebten. Vieles sei dabei mit Scham behaftet.
„Was passiert mit den Ergebnissen? Welche Auswirkungen gibt es?“, fragte Jana Autor (Sozialdienst muslimischer Frauen). Im Integrationsbeirat werde man gemeinsam und partizipativ nach Lösungen suchen, erwiderte Alshalaby. Die Initiative von Esmeral Hohm, Vorschläge dafür auch in diesem Fachgremium zu sammeln, lehnte Moderatorin Priska Hecht (Amt für Integration) ab: Dafür reiche die Zeit nicht und das passe nicht in den vom Amt geplanten Prozessablauf.
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