„Ein hervorragender Netzwerker“
Die schriftliche Fassung von Katrin Hollys Gutachten über Dr. Otto Merkt bringt weitere neue Erkenntnisse.
Kempten – Katrin Holly stellte ihr Gutachten über Otto Merkt bereits im Rahmen eines Bewegten Donnerstags vor. Jetzt ist ihre Studie im „Allgäuer Geschichtsfreund“ in voller Länge erschienen. Die schriftliche Fassung bringt vor allem in zwei Bereichen ein genaueres Bild:
1. Merkts Person und seine historische Rolle
Holly zeichnet über die Figur Merkts und seine politische Arbeit ein differenziertes Bild, das vor allem auf zwei Säulen basiert.
„Otto Merkt mussten die Nationalsozialisten nicht erst verführen“, stellt die Historikerin fest. „Seine Wertvorstellungen und Überzeugungen waren in vielerlei Hinsicht anschlussfähig.“ Das Konstrukt der „Volksgemeinschaft“ habe er verinnerlicht und das Führerprinzip befürwortet. Seine Überzeugungen seien völkisch, antiparlamentarisch, autokratisch und antisozialistisch geprägt gewesen. Im Bereich der Rassenhygiene habe er sich sogar selbst als Vorkämpfer des Nationalsozialismus gesehen. „Umlernen brauche ich nicht“, verkündete er 1933 den Stadträten gegenüber. Merkt habe sich mit der NS-Herrschaft nicht nur arrangiert, sondern diese auch begrüßt. Holly protestiert, vor allem in den Fußnoten, vehement gegen Gernot Römers Einschätzung, nach der der Oberbürgermeister ein Widerständler gewesen sei.
„Meister der Bürger“
Aber Merkt nur als Anhänger des Nationalsozialismus zu sehen, der sich stromlinienförmig an das Regime angepasst hätte, wäre genauso ein Fehler. „Merkt war in erster Linie Kommunal- und Regionalpolitiker“, schreibt Holly. „Die Bedürfnisse der Stadt Kempten und des Allgäus bzw. Schwabens standen für ihn an erster Stelle.“ Er verstand sich als „Meister der Bürger“ und hatte genaue Vorstellungen davon, in welche Richtung die Region sich entwickeln sollte. Seine Ziele, Kempten als „Hauptstadt des Allgäus“ zu etablieren, die Milch- und Viehwirtschaft zu fördern, durch die Gründung des AÜW die Versorgung mit Elektrizität zu sichern oder gezielt den Wohnungsbau zu fördern, bezeichnet Holly als „weitsichtige Kommunalpolitik“. Die erfolgreiche Förderung der Heimatpflege sieht sie wegen derer Einbettung in die völkische Ideologie kritischer. Merkt sei bei der Durchsetzung seiner Ideen „hartnäckig“ und „trickreich“ gewesen und habe die direkte Konfrontation nicht gescheut, betont die Historikerin.
Dass die Diskrepanz zwischen den Zielsetzungen der nationalsozialistischen Führung und den kommunalpolitischen Vorhaben des Oberbürgermeisters zu Konflikten führen musste, liegt auf der Hand. Bereits bei Merkts vergeblichem Versuch, im März 1933 das Hissen der Hakenkreuzfahne am Rathaus zu verhindern, sei es laut Holly allein um die Frage gegangen, wer in der Stadt das Sagen habe.
Anfangs hatte Merkt insgesamt gesehen die besseren Karten: „Er war derjenige, über den die bürgerlich-konservative Kemptener Gesellschaft an die neuen Herrscher gebunden werden konnte. Merkt erkannte das sofort“, schreibt die Historikerin. Außerdem hatte er das notwendige Fachwissen, „der rastlose Arbeiter“ war in der Stadtgesellschaft äußerst beliebt und vor allem: Er verfügte über ausgezeichnete persönliche Netzwerke. Seine Kontakte zu einflussreichen NS-Politikern wie Hermann Esser, Ludwig Siebert oder Wilhelm Frick bedeuteten für ihn einen bestimmten Schutz. Noch wichtiger waren aber die Netzwerke, die von ihm initiiert und vorangetrieben wurden, Im Anhang zählt Holly eine lange Reihe solcher Organisationen auf.
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Algovia und Altkatholische Kirche
Eine zentrale Rolle spielte dabei die Algovia, „das wichtigste bürgerliche Netzwerk in Kempten“. „Sie war ein Bindeglied zwischen konservativ, antidemokratisch und national eingestelltem Bürgertum und dem Nationalsozialismus in Kempten“, schreibt die Historikerin. Auf Merkts Engagement und zentrale Rolle weist hin, dass man die Stiftung der Algovia zur Unterstützung von Studenten aus Kempten bei ihrer Gründung 1927 nach seinem Verbindungsnamen Ekkehard-Stiftung nannte. Für Merkt persönlich war seine Verbundenheit mit der Altkatholischen Kirche von großer Bedeutung. Holly berichtet von Hinweisen, die darauf hindeuten, dass er in die vergeblichen Bemühungen, seine Kirche als „die wahre und einzige deutsche katholische Kirche im Reich“ von dem NS-Regime installieren zu lassen, involviert gewesen sei.
Mit der Stabilisierung der NS-Herrschaft hat sich der Wind gedreht und der Handlungsspielraum Merkts wurde immer kleiner. Er beklagte sich darüber bereits 1935. Dass er es trotzdem nicht richtig wahrhaben wollte, zeigen die Umstände seiner Zwangspensionierung 1942. Er hat hoch gepokert und verloren. Anhand der Wohnungspolitik lassen sich die Änderungen seiner Position zwischen 1933 und 1942 gut dokumentieren. Es ist ein glücklicher Zufall, dass Holly ihre Dissertation gerade über dieses Thema in Bezug auf Augsburg und Memmingen schrieb und beabsichtigt, diese Forschung auf Kempten auszudehnen.
In einer Zeit, als der staatliche soziale Wohnungsbau wegen der hohen Rüstungsausgaben praktisch zum Erliegen kam, gründeten Gauleiter Karl Wahl und Merkt 1936 die Kreis- bzw. Gauhilfe, um mit verbilligten Krediten die Finanzierung günstiger Wohnungen zu ermöglichen. Die praktische Arbeit leistete vor allem Merkt und er sorgte dafür, dass in der Öffentlichkeit auch Wahl als „Wohltäter“ wahrgenommen wurde. Beide profitierten. Anfang der 1940er-Jahre lief es nicht mehr gut, weil Bauland fehlte. Um neue Grundstücke zu bekommen, strebte Merkt die Eingemeindung Sankt Mangs an, was der Erbhofpolitik der Nationalsozialisten widersprach. Als er Anfang der 1940er-Jahre seine Kritik öffentlich äußerte, riss bei Wahl der Geduldsfaden endgültig: Er nutzte die Gelegenheit, den eigensinnigen OB loszuwerden. Die Gründe, an ihm festzuhalten, waren größtenteils nicht mehr vorhanden.
2. Viele Lücken in der Forschung
Holly fordert an erster Stelle eine „komplette und wissenschaftliche Auswertung“ des Merkt-Nachlasses. Sie hofft, dass die aktuell vom Institut der Zeitgeschichte erarbeitete Studie genaue Informationen über die Rolle der von Merkt geführten Stadtverwaltung liefert. Eine der wichtigsten Fragestellungen ist: Wie nutzte diese ihren Handlungsspielraum? Holly bezeichnet den Oberbürgermeister als einen „hervorragenden Netzwerker“. Die Historikerin empfiehlt eine tiefgehende Untersuchung seiner Rolle in diesen Organisationen. Sie bedauert an mehreren Stellen des Gutachtens, dass das Archiv der Algovia für die historische Forschung nicht offensteht. Um Merkts Entwicklung richtig zu verstehen, sollte auch sein Wirken vor dem Nationalsozialismus untersucht werden, auch seine Zeit in München.
Außerordentlich wichtig findet Holly, mit dem Nachlass, „der ein von ihm gesteuertes und generiertes Geschichtsbild kreiert“, und mit seinen Verteidigungsschriften vor der Spruchkammer kritisch umzugehen und dabei Quellen aus anderen Archiven heranzuziehen.
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