„Der Besuch der alten Dame“ am Münchner Volkstheater: Jetzt spricht die Enkelin
Sapir Heller inszenierte den Dürrenmatt-Klassiker „Der Besuch der alten Dame“ am Münchner Volkstheater und lässt dabei die Enkelin von Claire Zachanassian auftreten. Unsere Kritik:
Der Konradsweilerwald hat wahrlich schon bessere Tage gesehen. Ein hageres, aschgraues, blattloses Gerippe hat Anna van Leen auf die Bühne des Münchner Volkstheaters gebaut. Es konterkariert jedes Schwärmen der Güllener über ihre Heimat. Zugleich symbolisiert das mächtige Geflecht der Äste all die Traumata der Menschen, die Irrungen und Wirrungen der Vorfahren, die jede Generation mit sich schleppt – und von denen sie beeinflusst wird.
Sapir Heller inszenierte „Der Besuch der alten Dame“ am Münchner Volkstheater
Davon erzählt Sapir Heller in ihrer Version von „Der Besuch der alten Dame“; Friedrich Dürrenmatts Stück wurde 1956 in Zürich uraufgeführt. Die Regisseurin, die am Haus unter anderem „Amsterdam“ und „Animal Farm“ eingerichtet hat, verlegt die Geschichte nun um zwei Generationen in die Gegenwart und berichtet vom „Auftritt der Enkelin“, um sich mit der Vererbung seelischer Wunden und der Frage nach kollektiver Schuld auseinanderzusetzen. Das klingt zwar furchtbar theoretisch, ist über weite Strecken jedoch kluges, unterhaltsames Theater; am Freitag (12. April 2024) war Premiere.
Heller, 1989 in Israel geboren, benötigt für ihren Ansatz nur minimale Eingriffe in den Text. Bei ihr besucht Claire Zachanassian, ein junges Popsternchen, das verarmte Heimatkaff ihrer Oma. Ihr Name macht die Menschen dort ganz wuschig – hoffen sie doch auf den Geldsegen der Enkelin. Die erfährt erst mit der Zeit, dass ihre Großmutter einst von Alfred Ill geschwängert und verleumdet wurde: Der Ort glaubte damals Ill, und so wurde die ledige Frau unter Schimpf und Schande aus Güllen vertrieben. Da sich die Stadt nie mit ihrer Mitschuld auseinandergesetzt hat, schreibt Zachanassian ein Kopfgeld auf Alfred Ills Enkel aus. Fortan scheint sich die Geschichte zu wiederholen.
Sapir Heller lässt die Enkelin der alten Dame am Volkstheater auftreten
Natürlich lässt sich Hellers Lesart als direkter Bezug auf den Umgang der Deutschen mit den NS-Verbrechen begreifen. Die Regisseurin selbst bleibt jedoch zurückhaltend. Hier mal eine Anspielung auf Gaulands Nazi-Verharmlosung mit dem „Vogelschiss“, dort das berühmte Zitat des Shoah-Überlebenden Max Mannheimer: „Ihr seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwortlich dafür, dass es nicht mehr geschieht.“ Die 35-Jährige fasst ihre Interpretation nicht nur historisch, sondern weitet die Debatte. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ lautet der zentrale Satz ihrer Produktion, der nicht nur auftaucht, wenn die Güllener erklären, warum sie das Geschehene so gern unter den Teppich kehren. Wohin das führt, wird spätestens klar, als Anna van Leen die Bühne nach oben fahren lässt. Der Baum von trauriger Gestalt aus dem Konradsweilerwald wurzelt in einem übergroßen Widder-Schädel, bedrohlich dampfend und mit gefährlich rot funkelnden Augen.
Je stärker sich Heller auf das Adjektiv dieser „tragischen Komödie“ konzentriert, desto besser wird ihre Arbeit. Vor allem der Beginn des Abends zieht sich: Weder Regisseurin noch Ensemble haben einen überzeugenden Zugang zu den karikaturhaften Figuren entwickelt, der lustig und entlarvend ist. Doch im Fortgang der 110 Minuten findet die Inszenierung ihren Ton.
Das liegt auch an Nina Steils und Jonathan Müller. Sie, die in vielen Volkstheater-Produktionen eine Bank ist, entwickelt als Claire Zachanassian einen unbedingten Willen zur Aufklärung. Einen der stärksten Momente hat Steils, als ihrer Figur klar wird, wohin dieser Wille führen kann. Er wiederum zeigt Alfred Ill selbstbewusst bis in die ordentlich ausgebauten Bi- und Trizepse als „beliebtesten Bürger“ Güllens. Der Zusammenbruch, das Erkennen (und Anerkennen) der Ausweglosigkeit der Lage, kommen dann wie nebenbei.
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Mit ihrer Enkel-Version verschärft Heller die Dissonanz in Dürrenmatts Stück. Während im Original eine „Gerechtigkeit“ siegt, die nichts weiter ist als Rache, gibt es nun überhaupt kein Geld für Güllen – Claires Aufruf zum Mord war ein Testlauf. Doch obwohl die Einwohner davon erfahren, ist Ill am Ende tot. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf – ob die Kunst Rettung bringt? Heller lässt es nicht unversucht, und so singt Nina Steils am Ende ein Lied nach Versen des jüdischen Autors Itzik Manger (1901-1969): „Deine Augen sind so schön, Mutter, lass das Weinen – bald steh ich in Federn da und auf Vogelbeinen.“ Ein intensiver Moment der Stille am Premierenabend, bevor der Jubel losbricht.