Sapir Heller über „Der Besuch der alten Dame“ am Münchner Volkstheater: „Wir müssen uns wehren“

  1. Startseite
  2. Kultur

KommentareDrucken

Wie sehr leiden die nachfolgenden Generationen unter den Traumata der Großeltern? Dieser Frage geht Sapir Heller in ihrer Inszenierung von „Der Besuch der alten Dame“ nach. © Gabriela Neeb/Münchner Volkstheater

Sapir Heller inszeniert Dürrenmatt am Münchner Volkstheater und schreibt „Der Besuch der alten Dame“ fort. Nun ist Premiere.

Eine „tragische Komödie“ nannte Friedrich Dürrenmatt sein Stück „Der Besuch der alten Dame“. 1956 wurde es in Zürich uraufgeführt, mit der legendären Therese Giehse in der Titelrolle, mitten in der Wirtschaftswunderphase nach dem Zweiten Weltkrieg. Da standen geflissentliches Verdrängen, gezieltes Vergessen und ein sehr elastischer Moralbegriff auf der Tagesordnung. Gerechtigkeit war eine Illusion und materielle Überlegenheit die einzige Währung, die wirklich zählte. Ruft man sich dies in Erinnerung, verwundert es nicht mehr, dass dieser makabre Klassiker momentan wieder von Dresden bis Zürich auf den Spielplänen steht. Am Samstag (13. April 2024) hat das Drama, das dem Schweizer Schriftsteller damals zum großen Durchbruch verhalf, am Münchner Volkstheater Premiere. Regie führt die seit 2008 in München lebende Sapir Heller, die am Haus schon einige Stücke wie „Amsterdam“ oder „Animal Farm“ inszeniert hat. 

Sapir Heller erzählt am Volkstheater Dürrenmatts Stück aus der Perspektive der Enkelin

„Es gibt so Stücke“, schildert sie im Gespräch mit unserer Zeitung, „die liegen irgendwie plötzlich in der Luft“. Von einem Trend habe sie, als sie Intendant Christian Stückl das Drama vorschlug, nichts gewusst. „Mich hat das Thema Rache interessiert. Aber in einem breiteren Sinn: Wenn keine Aufarbeitung nach einem schrecklichen Ereignis stattfindet und daraus Traumata entstehen, die sich in den folgenden Generationen fortsetzen.“

Aus diesem Grund hat sie den Text zeitlich kurzerhand um zwei Generationen versetzt. Bei Heller kommt nicht die greise Milliardärswitwe Claire Zachanassian zurück in ihre Heimatstadt Güllen, um erbarmungslos Rache zu nehmen. Diesmal erscheint ihre Enkelin, selbst reich geworden als musikalischer Superstar, um die Kleinstädter für das Unrecht büßen zu lassen, das man der geliebten Oma einst antat. 

Porträt der Regisseurin Sapir Heller am Münchner Volkstheater.
Erzählt von der Enkelin: Regisseurin Sapir Heller. © LOEBER STEFAN

„Ich wollte sehen, welche Bedeutung Rache hat, wenn wir nicht unmittelbar von der Tat betroffen sind. Spielt das dann noch eine Rolle? Ich denke ja. Aber in einer anderen Qualität“, fasst die gebürtige Israelin zusammen. „Meine Familie stammt aus vielen Ländern“, erzählt sie. Mütterlicherseits aus Syrien und der Ukraine, väterlicherseits aus Österreich. „Sie konnten zwar rechtzeitig nach Israel fliehen, das damals ja noch gar nicht so hieß, haben aber dennoch viele Verwandte im Holocaust verloren. Ich habe also direkten Bezug zur Aufarbeitung solcher vererbten Traumata.“ Die gebe es auf Opfer- wie auf Täterseite, und schnell lande man da bei Themen wie Schuld. Heller sieht die für ihre, die dritte Generation nach der Shoah, nicht mehr. Aber es gebe die große Verantwortung, dafür zu sorgen, dass solche Dinge nie wieder geschehen.

In deutschen Schulen wird heute ausführlich über den Nationalsozialismus unterrichtet. „Jede Schulklasse besucht irgendwann eine KZ-Gedenkstätte. Es gibt viele Veranstaltungen. Aber in der eigenen Familie wird nach wie vor kaum darüber gesprochen, habe ich von meinen Freunden erfahren. Erschreckend wenige wussten Bescheid über das, was ihre Großeltern während der NS-Zeit getan hatten. Da gibt es nach wie vor ein großes Schweigen und kaum Auseinandersetzung.“ Genau deswegen hat sich die 34-Jährige dafür interessiert. Denn „wir leben zwar in einer anderen Zeit als 1933. Aber es passiert jetzt schon oft genug etwas, und alle schweigen“, sagt Heller. „Bevor sich die Situation so verschärft, dass Widerspruch nicht mehr möglich oder sogar lebensgefährlich wird, müssen wir uns wehren.“

Das sieht Sapir Heller als ihre ganz spezielle Aufgabe, auf der Bühne, mit den Mitteln des Theaters. Sie zitiert Martin Niemöllers berühmtes Gedicht „Als die Nazis die Kommunisten holten...“ über die Bedeutung des Widerstands und betont: „Es geht doch längst nicht mehr nur um mich selbst, sondern um die ganze Gesellschaft. Und es ist unsere Verantwortung, jetzt etwas dagegen zu tun.“

Auch interessant

Kommentare