„Vielleicht besuche ich ihn“: Reker packt über Attentäter und Kölns Verfall aus
Frau Reker, Ihre Amtszeit als Kölner Oberbürgermeisterin geht im Herbst nach zehn Jahren zu Ende. Welches Fazit ziehen Sie?
Henriette Reker: Ein gemischtes. Ich habe nicht alle Dinge erreicht, die ich mir vorgenommen habe. Dass Oper und Schauspielhaus noch immer eine Baustelle sind, ist eigentlich unfassbar und schmerzt mich sehr. Das ist ein Stachel in meinem Fleisch. Und dass meine Zeit als OB inmitten der größten Finanzkrise der Städte und Kommunen endet, bereitet mir große Sorgen.
Ich habe aber auch Erfolge erzielt. Im Schulbau zum Beispiel. Und ich hinterlasse eine andere Verwaltung, als ich sie vorgefunden habe. Sie ist heute digitalisiert und viel serviceorientierter.
Im Ernst? Viele Menschen klagen über lange Wartezeiten – von der Beantragung eines neuen Personalausweises bis hin zur Baugenehmigung, die Monate braucht.
Reker: Das ist mein voller Ernst. Die Verwaltung ist heute ganz anders strukturiert, die Zuständigkeiten sind besser geordnet. Noch ist nicht alles für die Bürgerinnen und Bürger spürbar, doch der Grundstein für moderne, digital ausgerichtete Behörden ist gelegt. Da müssen wir uns überhaupt nicht verstecken vor anderen Städten, im Gegenteil.
Henriette Reker über Messerattentat: "Ich hatte Bewältigungsträume, die Ärzte sagten mir, das sei normal"
Einen Tag vor Ihrer Wahl wurden Sie im Oktober 2015 Opfer eines Messerattentats, das Sie beinahe das Leben kostete. Wie sehr hat diese Tat Ihre Amtszeit geprägt?
Reker: In der ersten Zeit nach der Amtsübernahme habe ich schlichtweg nur funktioniert. Ein halbes Jahr lang hatte ich sogenannte Bewältigungsträume. Die Ärzte sagten mir, das sei normal.
Danach war ich angstfrei und konnte das Attentat mit Hilfe vieler Menschen, die mir nah und wichtig sind, verarbeiten. Ich habe dann auch schnell gespürt, dass mir meine 15-jährige Erfahrung als Sozialdezernentin in Gelsenkirchen und Köln dabei hilft, die Stadt als Ganzes zu steuern.
Der Gewalttäter, der aus fremdenfeindlichen und rechtsextremen Motiven auf Sie einstach, hat in der Haft den Wunsch geäußert, sich bei Ihnen zu entschuldigen. Werden Sie ihn nach Ihrer Amtszeit besuchen?
Reker: Vielleicht mache ich das im Herbst. Ich stehe dieser Idee näher als bislang. Entschieden habe ich mich aber noch nicht.
Mit welchen Erkenntnissen gehen Sie als erste Oberbürgermeisterin Kölns wieder aus dem Amt hinaus?
Reker: Erstens: Der Großteil meiner Arbeit war permanentes Krisenmanagement – was natürlich mit Corona und den Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zu tun hatte.
Zweitens: Der Einfluss der oder des OB wird häufig überschätzt. Anders als zum Beispiel der Bundeskanzler hatte ich als Verwaltungschefin kein Kabinett, das ich mir nach meinen Vorstellungen als Team zusammenstellen konnte. Sondern Beigeordnete, die vom Rat bestimmt sind und im Zweifel nach Parteienproporz ausgewählt werden. Und die dann teilweise mit ganz unterschiedlichen und kontroversen Vorstellungen ihre Aufgaben erfüllen.
Sie verabschieden sich also ziemlich desillusioniert aus dem Rathaus?
Reker: Nein, ich habe schon richtig eingeschätzt, was man bewegen kann. Es war mir von Anfang an klar, dass ich zehn Jahre brauchen würde, um Strukturen zu schaffen, die einem Anspruch an eine moderne Verwaltung gerecht werden.
Reker über Köln: "Die Kommunen befinden sich in der größten Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg"
Was wären drei Dinge, die Sie auf jeden Fall anders machen würden?
Reker: Ich würde mir ein Veto-Recht bei der Dezernenten-Wahl wünschen und das auch einfordern.
Zweitens würde ich Wert darauflegen, dass die Stadt Köln wieder einen größeren Einfluss beim Wohnungsbau bekommt. Mit einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft neben der GAG als Aktiengesellschaft, die ihren Auftrag auch erfüllt. Und ich würde verstärkt darauf achten, dass die Finanzierung von Großprojekten nicht über den normalen Haushalt, sondern über die mittelfristige Finanzplanung gesteuert wird.
Die Kommunen leiden an Kostensteigerungen, hohen Tarifabschlüssen und stark steigenden Sozialabgaben. Was muss geschehen, damit Städte wie Köln keinen Finanzkollaps erleiden?
Reker: Die Kommunen befinden sich in der größten Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Es ist enorm wichtig, dass keine weiteren Aufgaben mehr zu Lasten der Städte beschlossen werden. Wir sind jetzt schon die Reparaturbetriebe dessen, was in Bund und Land nicht funktioniert. Es ist auch unabdingbar, dass Bund und Land Aufgaben die sie bereits an die Städte delegiert haben, zurücknehmen und selbst dafür finanziell einstehen.
Was heißt das konkret?
Reker: Ich denke etwa an den massiven Ausbau der Kinderbetreuung. Dieser ist gesellschaftlich notwendig und gewollt. Aber dann muss das auch gesamtgesellschaftlich finanziert werden. Offene Ganztagsschulen sind prima, können aber zum allergrößten Teil nicht von den Kommunen geschultert werden. Wenn diese am Ende überfordert sind, wird auch der Bund merken, dass Vertrauen in den Staat zerstört wird.
Sollte für die Städte der Anteil an den Gemeinschaftssteuern erhöht werden?
Reker: Ja. Wir bekommen als Städte ungefähr ein Siebtel der Steuereinnahmen, haben aber ein Drittel der Lasten. Ein höherer Anteil der Kommunen an der Umsatz- oder Mehrwertsteuer wäre daher angemessen. Denn die Kommunen sind die Keimzellen unserer Demokratie. In den Augen vieler Bürgerinnen und Bürger sind wir aber jetzt schon nur noch Mangelverwalter statt Problemlöser.
Merz' Infrastruktur-Milliarden: "Ich merke noch nichts außer einer verbesserten Stimmung"
Immerhin gibt es nun das milliardenschwere Infrastrukturpaket des Bundes, von dem auch die Kommunen profitieren sollen. Merken Sie davon schon etwas?
Reker: Ich merke noch nichts außer einer verbesserten Stimmung, was ja auch schon etwas Wert ist. Die Gelder müssen jetzt schnell bei den Kommunen ankommen. Wir erleben alle, dass Brücken saniert werden müssen und Schulen gebaut werden müssen.
In Köln haben wir die größten Investitionen in der Geschichte der Stadt in den Schulbau vorgenommen mit mehr als zweieinhalb Milliarden Euro. Das können wir aber so alleine auf die Dauer nicht leisten. Wir brauchen auch hier Unterstützung vom Bund.
Stichwort Demokratiegefährdung: Trägt die Verlotterung im Kölner Stadtbild auch dazu bei?
Reker: Ja, weil sie bei den Menschen ein Gefühl der Unsicherheit auslöst. Die zunehmende Verwahrlosung muss ohne Frage bekämpft werden. Dafür brauchen wir aber trotz desolater Haushaltslage zusätzliche finanzielle und personelle Ressourcen.
Erschwert wird die Entwicklung durch den Vormarsch von Drogen wie Crack, die zu deutlich mehr Aggressivität bei den Konsumenten führen. Unser Konzept mit Streetworkern und Drogenkonsumraum kommt da leider nur an die Spitze des Eisbergs heran. Das ist nicht nur in Köln so und sehr besorgniserregend.
Was hätten Sie beim Thema Aufenthaltsqualität, Stadtbild, Drogenkonsum im öffentlichen Raum anders machen müssen?
Reker: Wir hätten schon sehr viel früher bauliche Veränderungen vornehmen müssen. Es hätte uns gelingen müssen, die dunklen Unterführungen am Ebertplatz zu schließen, den Platz auf Straßenniveau zu bringen und die Verkehrsführung zu verändern.
Am Neumarkt verzeichnen wir erste Erfolge mit besser funktionierenden Fußgängerüberwegen, auch mit einer Belebung durch Gastronomie und dem Brunnen, der in der Mitte des Platzes wieder sprudelt. Aber, um es ganz deutlich zu sagen: Es ist frustrierend, dass in der Umsetzung alles viel zu lange braucht.
AfD-Verbotsverfahren? "Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt"
Als demokratiegefährdend sehen Sie ja auch die AfD an, gegen die Sie sich immer wieder positioniert haben. Brauchen wir in Deutschland ein AfD-Verbotsverfahren – ja oder nein?
Reker: Man hätte dieses Verbotsverfahren schon sehr viel früher anstreben müssen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist das schwierig, weil die AfD es nutzen würde, um ihre Opferrolle zu betonen.
Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für ein Verbotsverfahren. Wir müssen politisch gegen die AfD vorgehen – und auch mit den Menschen sprechen, die der AfD zugeneigt sind. Es hilft nicht, diese Menschen auszuschließen und sich nur gegenseitig zu versichern, was wir alle für wunderbare Demokraten sind.
Zurück nach Köln: Was wird sich die Stadt in Zukunft nicht mehr leisten können?
Reker: Die Stadt wird es nicht mehr schaffen, Großprojekte wie Brücken und Schulen, Schauspiel und Oper, Römisch-Germanisches Museum oder die Erweiterung des Wallraf-Richartz-Museums/Foundation Corboud parallel anzugehen. Köln wird viel mehr priorisieren müssen. Ich habe bereits vor zwei Jahren eine Prioritätenliste vorgelegt mit der Vorstellung, dass der Rat diese umsetzt. Das hat er nicht getan. Dabei ist das Sparpaket, das nun verabschiedet wurde, erst der Anfang. Es werden noch deutliche Einschnitte nötig sein.
Wie könnten die stetig wachsenden kommunalen Sozialausgaben verringert werden? Bei der Kinder- und Jugendhilfe haben sie sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt.
Reker: Indem man die Kinder, die Unterstützung und ein anderes Umfeld brauchen, um sich zu entwickeln, noch früher in den Kindertagesstätten aufnimmt. Und sie noch enger begleitet.
Aber damit spart man doch nichts...
Reker: Auf lange Sicht schon. Es läuft dann später weniger aus dem Ruder. In Köln liegt die internationale Herkunftsgeschichte bei Menschen, die das 18.Lebensjahr noch nicht erreicht haben, fast bei 60 Prozent. Die Schulklassen sehen schon anders aus als früher, die Kindergartengruppen auch.
Man sieht das auch an 800 Kindern, die es nicht geschafft haben, von der zweiten in dritte Grundschulklasse zu kommen. Die bleiben auf ihren Stühlen sitzen, und die Eingangsklassen haben keine Schulplätze. Da schließt sich der Kreis.
Reker: "Eine Seilbahn über den Rhein wäre ein Highlight"
Kann Kommunalpolitik so auf Dauer funktionieren? Oder muss sich etwas Grundsätzliches ändern?
Reker: Eine Millionenstadt wie Köln kann nicht gesteuert werden wie eine Kommune, bei der sich die Aufgaben nicht so auftürmen. Ich beklage mich nicht über unsere Ehrenamtler im Rat – aber wir brauchen hauptamtliche Politiker, die Entscheidungen professionell vorbereiten und dann schnell treffen können.
Dafür muss die Gemeindeordnung auf Landesebene geändert werden. Köln ist, was den Haushalt angeht, größer als das Saarland – und muss gesteuert werden wie eine der kleinsten Kommunen des Landes: Hückeswagen.
Wo sehen Sie Zukunftsthemen, bei denen Köln zum Vorreiter werden könnte?
Reker: Ich würde mich sehr freuen, wenn wir andere Verkehrsmittel in Köln ausprobieren würden. Eine Seilbahn über den Rhein wäre ein Highlight! Auch die Via Culturalis, ein Kulturpfad in der Innenstadt, auf dem sich mehr als 2000 Jahre Stadt-, Stadtbau- und Architekturgeschichte erleben lässt, wird ein Magnet werden.
Wie sehr besorgt Sie die Krise des immer noch größten privaten Arbeitgebers in Köln, Ford? Tausende Arbeitsplätze stehen wegen einer verfehlten Modellpolitik auf dem Spiel.
Reker: Das besorgt mich sehr. Diese existenzielle Krise geht weit über Ford hinaus und betrifft auch die Zulieferbetriebe. Es sind Entscheidungen in den USA gefällt worden, die in Köln nun ausgebadet werden müssen. In Detroit wurden die Chancen der E-Mobilität nicht rechtzeitig erkannt, auch die Möglichkeit einer Weiterentwicklung am Standort Köln hat man nicht gesehen. Die Marktchancen in Deutschland wurden insgesamt nicht angemessen beurteilt. Das ist sehr bitter.
Was können Sie tun, um den Druck auf den US-Mutterkonzern zu erhöhen?
Reker: Wir sind im engen Austausch mit Geschäftsleitung und Betriebsrat. Der Rat hat sich dazu bekannt, offene Arbeitsplätze bei der Stadt mit Ford-Mitarbeitenden zu besetzen, wenn es thematisch und von der Qualifikation her passt. Wir wollen alles tun, um die Krise als Stadt abzufedern.
Frau Reker, was bleibt von Ihrer Amtszeit? Bitte drei Punkte!
Reker: Es bleibt die deutlich verbesserte Lage an den Kölner Schulen. Es bleiben die vielen Radwege als Baustein zur fahrradfreundlichen Stadt. Und es bleibt eine Kölner Wirtschaft, die auch dank der Rahmenbedingungen für Unternehmen stabil durch die Krise gekommen ist. Das sieht man zum Beispiel am neuen Konferenz- und Ausstellungszentrum Confex der KölnMesse.
Reker nach zehn Jahren OB: "Ich kann nicht mehr kochen und muss wieder Autofahren lernen"
Was haben die zehn Jahre persönlich mit Ihnen gemacht?
Reker: Sie haben dazu geführt, dass ich privat kaum noch Gäste einladen konnte, nicht mehr kochen kann und wieder Autofahren lernen muss. Freundeskreise muss ich mir erstmal wieder aufbauen. Es gibt noch eine Handvoll Menschen, die mir wirklich nahestehen.
Worauf freuen Sie sich am meisten?
Reker: Selbstbestimmt leben zu können und nicht mehr abhängig zu sein von einem Kalender, in dem nur wenige Prioritäten von mit selbst gesetzt werden. Zeitweise werde ich auch wieder als Anwältin arbeiten, im Bereich Medizinrecht. Das ist ein Herzensthema von mir.
Wo wird man Sie in Köln weiter antreffen?
Reker: Ganz sicher auf dem Wochenmarkt im Veedel und im Grüngürtel. Und natürlich in Schauspiel, Oper und Philharmonie. Aber auch in den Museen, die ich dann wieder mit anderen Augen betrachten kann.