„Storm Shadow“ nun in Russland? Experte Gressel erklärt die Lage – und Paradox um Putins „rote Linien“
London verwirrt mit seinen Statements zum ukrainischen Einsatz von Marschflugkörpern in Russland. Experte Gustav Gressel findet das nicht verkehrt.
„Rote Linien“ sind ein steter Begleiter im Ukraine-Krieg – und die meisten der zwischenzeitlich ausgerufenen Grenzen bei der Hilfe des Westens längst überschritten. Unklar scheint, ob die nächste davon fällt: Schon vor Mitte Juli war zu vernehmen, dass die britische Regierung den Marschflugkörper „Storm Shadow“ für den Einsatz gegen Ziele in Russland freigeben will. Aber seitdem hagelt es unklare Zeichen, anonyme Dementis und verwirrende Statements aus London.
Was ist da los? Der bekannte Militärexperte Gustav Gressel hat IPPEN.MEDIA die Lage erläutert – er sieht die Antwort in der Realität des Krieges. Und der Politologe des „European Council on Foreign Relations“ findet den Kurs der Briten und Franzosen sinnvoller als den der Ampel-Koalition und der USA.
„Wäre die Ukraine frei, mit Storm Shadow russisches Gebiet anzugreifen, hätte sie das schon getan“
„Die Briten und Franzosen haben nicht öffentlich kommuniziert, dass sie Einschränkungen bei der Zielauswahl ihrer Waffen verhängt haben“, betonte Gressel in seiner Einschätzung am Freitagabend (19. Juli). Wichtig aber: „Das heißt nicht, dass sie das nicht getan haben.“
Trotz aller für die Ukraine positiven, teils aber widerstreitenden Zeichen könnte der Einsatz von „Storm Shadows“ oder auch dem französischen Pendant „SCALP“ in Russland weiter untersagt sein. „Wäre die Ukraine wirklich frei, mit SCALP oder Storm Shadow auf russisches Gebiet anzugreifen, hätten sie das schon getan, vor allem gegen Feldflugplätze“, erklärte der österreichische Politikwissenschaftler. Ein weiteres Indiz habe Wolodymyr Selenskyjs Besuch am Freitag in London geliefert. Dort bat der ukrainische Präsident nochmals direkt um Freigabe – auch um blutige russische Angriffe auf Wohngebiete verhindern zu können. Das wäre nicht nötig gewesen, gebe es bereits die Erlaubnis, meint Gressel.
Verwirrung um „Storm Shadow“-Einsatz in Russland – kein Fehler, sondern „intelligenter“ als US-Kurs?
Vorausgegangen war weitere Verwirrung. Keir Starmers Verteidigungsminister John Healey sagte der BBC zwar, das Vereinigte Königreich untersage der Ukraine nicht, die Waffen gegen Ziele in Russland einzusetzen – erklärte aber zugleich, er werde sich nicht öffentlich zur Frage äußern, ob Kiew Storm Shadow gegen russische Ziele einsetzen dürfe. Es gebe „intensive Diskussionen“ zu „komplexen Fragen“. Ein Kommunikationsdesaster?
Gressel sieht es anders. „Ich halte die britisch-französische Haltung, den Russen Einschränkungen nicht auf die Nase zu binden und öffentlich breitzutreten, auch für die intelligentere Methode als die deutsch-amerikanische Verkündigungspolitik”, erklärte er IPPEN.MEDIA. Dabei geht es im Hintergrund auch um Russlands Drohungen mit Atombomben.
Aus dem Zaudern in den USA und der Bundesrepublik leite Russland „letztendlich einen Glaubwürdigkeitsanspruch seiner nuklearen Abschreckung ab“ – der aber nicht zu halten sei. Denn die meisten Einschränkungen seien „Unsinn“ und müssten „früher oder später widerrufen werden“. Sprich: Russland kann dank dieser Haltung Druck mit seiner Nukleardrohung machen – und wird sich dennoch düpiert sehen. Ähnlich ist es bereits bei anderen „roten Linien“ geschehen: bei „schweren Waffen“, Panzern oder Kampfjets – oder zuletzt bei Angriffen auf Ziele Russlands in der schwer unter Beschuss stehenden Region Charkiw.
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„Rote Line“ – und nützliche Option gegen Putins Verheerungen: Wie Angriffe in Russland der Ukraine helfen
Gressel verwies zugleich auf seine klare Haltung zur Option ukrainischer Schläge gegen militärische Ziele auf russischem Boden. Bereits Ende Mai hatte der Militärexperte den Nutzen solcher Angriffe in einem Youtube-Video erklärt. Waffen wie die Marschflugkörper „Storm Shadow“ oder „SCALP“ könnten auf Russlands Militärflugplätzen, -reparaturwerkstätten, Kommandozentralen oder Abschussbasen größere Schäden anrichten als das eigene Arsenal der Ukraine, etwa Drohnen. Damit könnten sie Russland zwingen, Gerät weiter von der Front wegzuverlegen – und so letztlich wiederkehrende verheerende Angriffswellen auf die Ukraine erschweren.
Ein anschauliches Beispiel sei die Krim. Die Halbinsel ist völkerrechtlich ukrainisches Territorium: Somit darf die Ukraine hier auch westliche Waffen einsetzen und hat das Gressel zufolge auch bereits mit den beschriebenen positiven Folgen getan. Ein wahlloses Bombardement auf russische Ziele oder eine „Eskalation“ durch Russland sei hingegen nicht zu erwarten. Ersteres sei schließlich auch in besetzten Gebieten oder mit anderen Waffen ausgeblieben. Und der Kreml habe bereits all seine Kräfte im Einsatz: „Wir leben bereits in der Eskalation“, sagte Gressel damals. (fn)