Während die SPD und ihr Chef Lars Klingbeil in der Regierungskoalition auftrumpfen und sozialdemokratische Positionen durchsetzen, gerät die Partei in Wahrheit auf eine immer abschüssigere Bahn. Beobachter wie der Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, Manfred Güllner, sprechen inzwischen von einer „existenzbedrohenden“ Situation.
Dabei ereignet sich der Überlebenskampf der SPD nicht als plötzlicher Herzstillstand, sondern als langsames Verenden: Man sieht einer alten Volkspartei dabei zu, wie sie Luft holt, aber keine mehr bekommt. Zwar wächst der Unmut über die Regierung, die Unzufriedenheit mit Kanzler Friedrich Merz (CDU) ist hoch – was theoretisch ein ideales Klima für eine sozialdemokratische Renaissance wäre. Praktisch jedoch bleibt die SPD ein Schatten ihrer selbst. Und ihr Chef profitiert nicht von der Schwäche des anderen.
18 Prozent der Mitglieder wollen SPD nicht mehr wählen
Eine aktuelle Forsa-Analyse verortet die Sozialdemokraten seit der Bundestagswahl stabil unter der 15-Prozent-Marke, im RTL/ntv-Trendbarometer lagen sie zuletzt bei 14 Prozent. Das entspricht, bei einem Nichtwähleranteil von rund 25 Prozent, nur etwa 10,5 Prozent aller Wahlberechtigten. Forsa weist darauf hin, dass dies „mit Abstand der geringste Anteil“ sei, den die SPD je seit 1945 – und sogar seit der Weimarer Zeit – mobilisiert habe.
Die Partei, die einmal das Rückgrat der Bonner Republik war, hat sich in der Berliner Republik verzwergt. Besonders nachhaltig wirkt der Befund in den Milieus, die einst das historische Fundament der SPD bildeten. Arbeiter, Facharbeiter, Arbeitslose – also jene, in deren Namen die Partei noch immer Politik macht – wenden sich ab. Laut der Forsa-Analyse würden von allen Arbeitern und Arbeitslosen derzeit nur noch 9 Prozent SPD wählen.
Am bittersten ist die Zahl, die man in Willy-Brandt-Zeiten für völlig undenkbar gehalten hätte: 18 Prozent der eigenen Mitglieder würden heute eine andere Partei wählen. Die SPD verliert also nicht mehr nur Wähler – sie verliert den inneren Glauben an sich selbst.
Historischer Niedergang: SPD verliert 60 Prozent ihrer Wähler seit 1998
Forsa bilanziert, die Partei habe seit 1998 im Bundesdurchschnitt rund 60 Prozent ihrer einstigen Wähler verloren. Das hängt zwar auch mit einem Parteiensystem zusammen, das inzwischen deutlich mehr Gruppierungen kennt, die über die 5-Prozent-Hürde kommen, aber der SPD-Wert ist auch unter diesen Bedingungen kein Schönheitsfehler, sondern eine Erosion. In Thüringen sind drei Viertel der Schröder-SPD-Wähler verschwunden, in Hamburg die Hälfte.
Dazu passt der Blick auf die letzten Landtagswahlen: Nur in fünf der 13 Flächenländer wird die SPD noch von mehr als einem Fünftel der Wahlberechtigten gewählt; in Ländern wie Schleswig-Holstein, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern liegt sie unter 10 Prozent, in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt zum Teil nur noch bei 5 Prozent. Dort, wo früher rote Fahnen die politische Landschaft prägten, weht heute oft die blaue Fahne der AfD.
AfD dominiert Ostdeutschland – SPD kämpft um den Einzug in Parlamente
Die Umfrageergebnisse vor den Landtagswahlen, die im nächsten Jahr anstehen, verschärfen dieses Bild. In Sachsen liegt die SPD in einer Civey-Umfrage nur bei 5 Prozent, während die AfD mit 37 Prozent klar vorn ist. In Sachsen-Anhalt kommt die Partei laut Infratest dimap aktuell nur noch auf 7 Prozent – weniger als ihr bisheriges Rekordtief bei der letzten Landtagswahl –, während die AfD bei 39 Prozent liegt.
In Berlin, einst Schaufenster sozialdemokratischer Großstadtpolitik, wird die SPD ein Jahr vor der Abgeordnetenhauswahl in einer Umfrage nur noch auf Platz fünf geführt. Und in Mecklenburg-Vorpommern jagt Ministerpräsidentin Manuela Schwesig einer AfD hinterher, die laut ZDF-Analyse klar vorne liegt – die rot-rote Regierung hätte derzeit keine Mehrheit.
Zerfall der Bindekraft: SPD verliert auch kommunal ihre Hochburgen
Damit bestätigen die Wahlumfragen, was Forsa strukturell beschreibt: Die Bindekraft der SPD ist auf allen Ebenen geschrumpft – im Bund, in den Ländern, in den Kommunen.
Besonders drastisch wird es dort, wo die Partei einst das Gesicht der Städte prägte: In Dortmund, der „Herzkammer“ der Sozialdemokratie, schrumpfte die Anhängerschaft der Partei von Mitte der 1960er-Jahre bis zur Kommunalwahl 2025 um mehr als 70 Prozent. Was früher rote Hochburgen waren, sind heute politische Archäologiefelder.
Politikwissenschaftler: SPD hat ihr Wesen verloren – Auslaufmodell möglich
Parteienforscher haben diesen Niedergang seit Jahren vorhergesagt. Der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter, selbst langjähriges SPD-Mitglied, war einer der ersten, als er vor anderthalb Jahrzehnten davon sprach, dass die SPD nicht nur Wähler, sondern ihr Wesen verloren hat. Seine Diagnose damals: Die SPD sei keine Volkspartei mehr – und sie werde es auch nicht wieder werden.
In seinen Analysen zeichnet Walter nach, wie der Niedergang schon in den 1970er-Jahren begonnen hatte und sich über Reformen, Agenda-Politik und Milieuauflösung fortsetzte. Heute, im Jahr 2025, bewahrheitet sich die Voraussage von damals, wie der renommierte Demokratietheoretiker Fritz W. Scharpf feststellt.
Der langjährige SPD-Berater und Max-Planck-Direktor spricht von seiner Partei mit sichtbarer Resignation: Für die Zukunft der SPD sei er „eher pessimistisch“ – sofern sie sich nicht grundlegend wandle, sei die SPD „womöglich ein Auslaufmodell“. Die Genossen wissen das. Manche sagen es sogar: Nach dem historisch schlechten Ergebnis bei der Bundestagswahl 2025 erklärte Kiels SPD-Oberbürgermeister Ulf Kämpfer, er mache sich ernsthafte Sorgen: Für die SPD gehe es inzwischen „um die Existenz der Partei“.
Innerparteilicher Machtkampf: Linker Flügel blockiert Klingbeil
In dieser Lage wirkt ein Blick ins Innere der Partei wie die Beschreibung eines Brandes in einem einst stolzen Haus mit vielen Menschen, die darin leben. Nur: Anstatt das Feuer zu löschen, beschuldigen sich die Bewohner gegenseitig, es gelegt zu haben. Beispiele? In Berlin tritt die SPD-Landesführung geschlossen zurück, Pragmatiker wie der Neuköllner Bürgermeister Martin Hikel werden von Partei-Linken und Jusos demontiert; in Schleswig-Holstein tobt ein Richtungskampf.
Überall gilt: Wer als pragmatischer Problemlöser gilt, wird von Teilen des linken Flügels misstrauisch beäugt oder offen bekämpft. Und im Zentrum dieses Ringens steht Lars Klingbeil. Der Mann, der einmal als moderner Generalsekretär galt, ist heute Parteichef ohne Macht – formell an der Spitze, aber politisch eingekeilt. Das Bild, das aus der SPD selbst und von Beobachtern gezeichnet wird: Der linke Flügel hält Klingbeil „im Würgegriff“. Gleichzeitig sitzt mit Bärbel Bas eine klar linke Figur als Co-Führung an seiner Seite: Klingbeil hat also Ämter, aber keine Beinfreiheit.
Strategische Sackgasse: SPD ohne Profil, ohne Machtzentrum, ohne Erzählung
Genau hier zeigt sich, warum dieser Todeskampf der SPD nicht nur eine Frage schlechter Umfragen ist, sondern eine strategische Sackgasse. Eine Partei, die unter 15 Prozent geführt wird und in manchen Ländern in Richtung 5 Prozent fällt, müsste eigentlich ein klares Profil zeigen, ein klares Machtzentrum, eine erkennbare Erzählung. Stattdessen versucht die SPD, sowohl klassische Arbeiterpartei als auch aufgeklärte Großstadtlinke zu sein, Regierungspartei der Mitte und Protestkanal gegen Neoliberalismus, Verteidigerin des Industriestandorts und Anwältin der Klimatransformation.
Sie ist gleichzeitig Gewerkschaftskneipe und Coworking-Space – und am Ende nicht mehr glaubwürdig. Ihr Vorsitzender wirkt weniger wie der Chirurg einer Erneuerung, sondern mehr wie ein Bestatter, der noch die Leiche herrichtet. In der Koalition mit Kanzler Merz muss er verlässlich und regierungsfähig wirken, in der Partei selbst aber folgen sie ihm nicht. In der Summe ergibt das ein Bild, das den Forsa-Satz am Ende der Analyse wie einen Epilog überhöht: Setze sich der Schrumpfungsprozess auf allen politischen Ebenen fort, könnte „in absehbarer Zeit die Existenz der SPD als Partei bedroht sein.“
Dieser Artikel entstand in Kooperation mit "Business Punk".