Sorge um NATO-Sicherheit wegen Trump: „Sich auf die EU zu verlassen, wäre lebensmüde“
Wenn Donald Trump Präsident wird, gerät Europa in der NATO wahrscheinlich unter Druck. Die Europäer sind kaum verteidigungsfähig – vor allem in einem Bereich gibt es Mängel, so eine Expertin.
Berlin – Wer Ärger mit dem Schulhofrowdy hat, tut gut daran, einen starken Kumpel an seiner Seite zu haben. Das Sicherheitsgefühl in Europa zum Beispiel war über Jahrzehnte auch deshalb so hoch, weil man die USA als zuverlässigen Partner in der NATO wusste. Um in der Analogie zu bleiben: Blöd wird‘s, wenn der Kumpel USA sich zurückzieht und Europa sich plötzlich alleine mit Rowdy Russland rumschlagen muss.
Die USA klagen schon lange über eine aus ihrer Sicht ungerechte Lastenverteilung in der NATO und fordern mehr – finanziellen – Einsatz seitens Europas. Und Präsidentschaftskandidat Donald Trump hatte gar damit gedroht, die USA ganz aus dem Militärbündnis zu ziehen beziehungsweise säumigen Mitgliedern Schutz zu verwehren. Jetzt wächst die Sorge vor einem Wahlsieg Trumps – bei Politikern und in Militärkreisen, auch in Deutschland. Dort werden bereits Szenarien durchgespielt, wie Europa sich im Falle eines Putin-Angriffs allein verteidigen könnte. Aktuell hätte das Bündnis ohne die USA schlechte Karten, sagt Carolyn Moser vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Die promovierte Politologin und Rechtswissenschaftlerin forscht dort im Bereich Sicherheit und Verteidigung in Europa.
Falls Donald Trump die US-Wahl gewinnt: „Ohne USA wäre Europa nicht in der Lage, sich gegen einen Angriff zu verteidigen“
„Ohne die USA wäre Europa aktuell nicht in der Lage, sich gegen einen russischen Angriff zu verteidigen“, sagt sie im Gespräch mit IPPEN.MEDIA. Es mangele schon an funktionierender und moderner Ausrüstung. „Zum anderen fehlen Kommando- und Kontrollstrukturen, die alle in der NATO verankert sind und zum großen Teil über US-Militärs ablaufen.“ Mängel gebe es auch bei den sogenannten Critical Enablers, also Instrumenten abseits reiner Waffentechnik, die man braucht, um einen Krieg gewinnen zu können: zum Beispiel Nachrichtendienste, Überwachung und Aufklärung.
Fatale Zeichen nach außen: Militärexperten gehen davon aus, dass im Grunde nur eine deutlich präsentierte Wehrhaftigkeit Putin von Angriffen abhält. Reine Symbolpolitik helfe dabei wenig, sagt Carolyn Moser. „Natürlich muss man Zähne zeigen, damit der potenzielle Aggressor weiß, dass man im Notfall auch beißen kann. Aber dafür braucht man halt auch Zähne. In vielen europäischen Armeen gibt es aber ganz schön viele Zahnlücken.“
Nuklearwaffen zur Abschreckung gegenüber Putin in NATO-Staaten wieder Thema
Seit dem Ende des Kalten Kriegs sind zudem Nuklearwaffen, die der Abschreckung dienen sollen, wieder Thema. Europa aber hat de facto keine nuklearen Waffen. „Es gibt zwar Atomsprengköpfe in Großbritannien, aber die sind nicht unabhängig von den USA einsetzbar“, erklärt Expertin Moser. Nur Frankreich verfügt über von den USA unabhängig einsetzbare Atomwaffen, fährt diesbezüglich aber eine sehr nationale Politik, die gerade erst allmählich aufgeweicht wird. Und im Vergleich zum russischen Arsenal ist das französische Aufgebot zwergenhaft.
„Experten schätzen, dass Europa nach derzeitigem Stand erst in zehn Jahren in der Lage sein dürfte, sich selbst zu verteidigen“, erläutert Carolyn Moser. Und das gelte nur, wenn die Verteidigungsausgaben in den NATO-Staaten mindestens auf dem aktuellen Niveau blieben. „Vor dem Hintergrund, dass Russland kontinuierlich aufrüstet und die USA als Sicherheitsgarant für Europa nachlassen könnte, ist das für die Europäer überaus beunruhigend“, so ihre Einschätzung.
NATO-Einsatz der USA unter Donald Trump dürfte geringer werden
Die meisten europäischen Staaten haben in den letzten 20 Jahren relativ wenig für Verteidigung ausgegeben. Erst seit wenigen Jahren erhöhen viele Länder ihre Etats, NATO-Land Norwegen etwa hat jüngst seine Ausgaben überraschend auf ein historisches Hoch getrieben. In den meisten Ländern ist das Credo: Europa muss unabhängiger von den USA werden. Auch Deutschland fährt spätestens seit der Zeitenwende-Rede von Kanzler Olaf Scholz einen neuen Kurs. Aber: „Zu den Ausgaben zählen in Deutschland zum Beispiel auch Pensionen ehemaliger Soldaten oder Wartungskosten“, sagt Carolyn Moser. „Ein großer Teil wird genutzt, um die Streitkräfte überhaupt zu erhalten. Von Aufrüsten sind wir da noch weit entfernt.“ In der deutschen Debatte gehe dieser Aspekt oft stark unter.
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Viele Experten bezweifeln, dass USA auch unter einem möglichen Präsidenten Donald Trump die NATO wirklich komplett verlassen würden – neben reinen Sicherheitserwägungen gibt es auch politische: immerhin eröffnet das ungleiche Verhältnis den USA auch gewisse Einflusssphären auf Westeuropa. Aber: „Die Wahrscheinlichkeit ist relativ hoch, dass die USA sich noch weniger in Europa einsetzen werden, wenn Donald Trump Präsident werden sollte“, glaubt Carolyn Moser. Klar sei: Unter Trump wäre die Unterstützung Europas durch die USA sehr viel transaktionaler. „Das heißt, Sicherheitsgarantien gibt es dann zunehmend nur gegen entsprechende Gegenleistungen politischer, wirtschaftlicher oder militärischer Natur.“
Gefahr durch Russland auch in 30 Jahren nicht gebannt
Selbst, wenn der Krieg in der Ukraine endet, wird die Gefahr durch Russland auch in zehn, 20 oder 30 Jahren nicht einfach so gebannt sein, glaubt die Expertin. Für Staaten, die an Russland grenzen, bleibt das bedrohlich: „In den baltischen Ländern sieht man die Verteidigung in der Zukunft nicht in der EU, sondern bei der NATO“, so Moser. Dort wolle man unter dem nuklearen Schutzschirm der USA bleiben, das sei verständlich, solange die EU keine vergleichbaren Sicherheitsgarantien bieten kann. „Da wäre es fast schon lebensmüde, sich nur auf die EU zu verlassen.“