Russlands Kriegswirtschaft - „Putins Wirtschaft fährt auf Reserve“ - jetzt geraten die Schattenflotten ins Visier

Nach offiziellen Zahlen wuchs das russische Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2024 erneut um 3,6 Prozent, die Durchschnittslöhne stiegen nach Angaben der russischen Statistikbehörde Rosstat innerhalb eines Jahres sogar um 19 Prozent.

Wie geht das angesichts westlicher Sanktionen, Kapitalverkehrskontrollen und gesunkener Ölpreise? Und wie lange kann Russland das durchhalten?

Auf den ersten Blick länger als es viele im Westen bislang für möglich hielten. „Noch hat Putin gar nicht komplett auf Kriegswirtschaft umgestellt“, warnt Politikwissenschaftler Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Zwar würden in Russland zunehmend Gelder aus dem Staatshaushalt in den Militärkomplex umgeleitet. Aber da gebe es noch weiteren Spielraum, sagt der Experte. 

„Putins Wirtschaft fährt auf Reserve“

Alle Ausgaben, die nicht unmittelbar kriegswichtig sind oder dazu dienen, die Bevölkerung auf Kurs zu halten, werden umgeleitet. „Der Kreml investiert im Augenblick kaum in die Zukunft Russlands“, sagt Christian von Soest, Experte für Sanktionen am German Institute for Global and Area Studies (Giga) in Hamburg. Dazu gehörten Investitionen in neue Technologien wie die Künstliche Intelligenz, aber auch die Bekämpfung von sozialen Problemen wie Gewalt und Alkoholismus. 

 „Putins Wirtschaft fährt auf Reserve“, sagt von Soest. Die Posten für Militär und nationale Sicherheit machen zusammengenommen in diesem Jahr 40 Prozent des Staatshaushalts aus, das sind 8,7 Prozent des BIP. Allein der Verteidigungshaushalt für 2025 umfasst 13,5 Billionen Rubel, ein Viertel mehr als in 2024. Umgerechnet entspricht das einer Summe von 130 Milliarden Euro .

Kritik an der Kriegswirtschaft komme in Russland bislang kaum auf, denn weite Teile der Bevölkerung profitierten davon, sagt Stefan Meister. Wer in den Krieg ziehe, erhalte vergleichsweise hohe Gehälter und Zulagen an der Front und könne sich dadurch einen höheren Lebensstandard leisten. Zudem profitieren von der Kriegswirtschaft bislang vernachlässigte Industrieregionen. „Dort haben nun viele Menschen Vorteile durch die neuen Aufträge des Militärs“, sagt Meister. Das alles sorge für Wohlstandsgewinne, weshalb die Menschen auch die hohe Inflation akzeptieren.

Der militärische Komplex schwimmt im Geld

Die Firmen im militärischen Komplex schwimmen im Geld. Sie haben die Löhne hochgetrieben, um Fachkräfte anzuwerben. In der Folge mussten andere Branchen nachziehen, um ihre Mitarbeiter zu halten. Das erklärt den rasanten Anstieg der Durchschnittslöhne. Währenddessen bricht dort, wo nun Arbeitskräfte fehlen, die Produktion ein, etwa in der Landwirtschaft. Die Folge: Preise für Lebensmittel und andere knappe Güter steigen rasant, die Inflationsrate sprang im Oktober und November 2024 um jeweils 11,1 Prozent.

Sanktionen des Westens drücken Gewinne im Ölgeschäft 

Leidtragende dieser Entwicklung sind vor allem die Rentner: Ihre Bezüge haben sich nicht verändert. Viele von ihnen haben sich verschuldet, um überhaupt noch über die Runden zu kommen – und leiden nun zusätzlich unter den hohen Zinsen: Russlands Notenbank hat den Leitzins zur Bekämpfung der Inflation auf immense 21 Prozent angehoben.

Putin finanziert seine Kriegsmaschinerie noch nicht auf Kredit, sondern fast ausschließlich mit den Einnahmen aus Öl- und Gasgeschäften. Angesichts der westlichen Sanktionen sind China und Indien die größten Abnehmer geworden.

Haben die westlichen Sanktionen also überhaupt nichts bewirkt? „Diese Sichtweise ist falsch“, sagt Sanktions-Experte von Soest. Der Ölmarkt sei für Russland ein Käufermarkt und „China und Indien wissen um die Drucksituation“, sagt von Soest. Russland könne nicht auf bessere Preise warten, sondern müsse sein Öl loswerden, um Einnahmen zu generieren. Direkt nach dem Beginn der Sanktionen des Westens im Jahr 2022 führte das zu Preisabschlägen von 25 bis 30 Prozent auf den offiziellen Ölpreis. 

Von Soest geht davon aus, dass zumindest ein Teil des russischen Öls umdeklariert wird und schließlich doch im Westen landet, zum Beispiel als raffiniertes Öl aus Indien. Eine wichtige Rolle bei diesen Geschäften kommt der sogenannten Schattenflotte zu: Das sind rund 300 Öl- und Flüssiggastanker, die in Russland beladen werden und dann unter fremder Flagge in neutralen Gewässern auf den Weltmeeren ankern. Dort wird der Treibstoff dann auf Schiffe der Käufer umgepumpt. 

Schiffe der Schattenflotte dürfen keine Häfen mehr anlaufen

Also umgeht Russland die Sanktionen einfach? So einfach ist es nicht. „Das kennen wir aus anderen Sanktionsregimen: Prozesse werden angepasst und es bilden sich neue Exportnetzwerke“, sagt von Soest. Entscheidend sei, dass dies die Transaktionskosten nach oben treibe. Genau das trete nun ein, glaubt der Experte. 

„Es gibt vier Arten von Sanktionen gegen Russland“, erklärt von Soest. „Finanzielle Sanktionen, Technologie- und Exportkontrollen, die Kontrolle von Rohstoff- und Energieexporten und individuelle, personenbezogen Sanktionen.“ Jedoch würden sie nicht immer konsequent angewandt. So gelten etwa im Nuklearsektor fast keine Sanktionen, denn russisches Uran wird für westliche Kernkraftwerke gebraucht.

Finanzsanktionen sind das schärfste Schwert

 „Die Finanzsanktionen sind für moderne Volkswirtschaften das schärfste Schwert“, ist der Experte überzeugt. Zum Jahreswechsel haben die USA diese Sanktionen noch einmal deutlich verschärft, indem weitere Banken auf die Sanktionsliste gesetzt wurden, darunter auch die Schweizer Niederlassung der Gazprom Bank. 

Seitdem dürfen auch Unternehmen aus Drittländern diese Bankverbindung nicht mehr nutzen – sonst laufen sie Gefahr, in den USA von Geschäften ausgeschlossen zu werden. Das habe Russland empfindlich getroffen, sagt von Soest, weil die Gazprom Bank noch viele Gasexporte abgewickelt habe. Kunden, die bisher noch russisches Gas bezogen, könnten dieses zumindest über diesen Weg nun nicht mehr bezahlen.

Auch 183 Schiffe der Schattenflotte sind von den verschärften Sanktionen direkt betroffen: „Man setzt einzelne Schiffe, von denen man weiß, dass sie zu dieser Flotte gehören, direkt auf Sanktionslisten, wie Individuen und Unternehmen auch“, erklärt von Soest. Das führe dazu, dass diese Schiffe, etwa in der Ostsee, keine Häfen mehr anlaufen und betankt werden könnten. 

Enorme Rücklagen und geringe Schulden

Wie lange kann Russland das noch durchstehen? Länger als von vielen erhofft, glaubt Meister. „Der russische Staat verfügt über enorme Rücklagen und ist verhältnismäßig gering verschuldet. Der Schuldenstand beträgt gerade mal rund 40 Prozent des BIP.“ 

Um den enormen Geldbedarf des Militärsektors zu decken, ließ Wladimir Putin den sogenannten Wohlstandsfonds anzapfen, den Russland 2008 geschaffen hatte. Die leicht liquidierbaren Mittel in diesem Topf schrumpften seit Kriegsbeginn von 100,4 Milliarden US-Dollar auf rund 50 Milliarden zusammen.

Kriegsmüdigkeit in der russischen Bevölkerung

Das Geld wird gebraucht, um Soldaten zu bezahlen und neue Waffen anzuschaffen. Hinzu kommen soziale Wohltaten, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Krieg stehen: Pensionen für Witwen und Kriegsversehrte etwa sowie Geldprämien für die Rekrutierung neuer Soldaten. Denn in der russischen Bevölkerung macht sich ein gewisse Kriegsmüdigkeit breit. Es wird für Putins Apparat immer schwieriger, neue Soldaten zu finden. Das erklärt für Beobachter auch den Einsatz von nordkoreanischen Streitkräften.

Trotzdem funktioniere die aktuelle Kriegswirtschaft nicht ewig. „Die Inflation, die schmelzenden Rücklagen und die hohen Beschaffungskosten für sanktionierte Bauteile und Maschinen sorgen dafür, dass die Lebensqualität in Russland nun langsam abnimmt.“ In sozialen Medien sehe man erste, zaghafte Proteste. „Wenn jetzt auch noch der Ölpreis einbrechen würde, hätte Putin ein echtes Problem“, sagt Meister. Umgekehrt helfe ihm jede Eskalation, die den Preis hochtreibt, etwa im Nahen Osten, um die Einnahmen aus dem Ölgeschäft zu steigern.

„Wenn man jetzt den Druck auf Putin erhöht, könnte das einen Dominoeffekt auslösen“

Für die Ukraine gibt es jedoch auch gute Nachrichten: Meister glaubt, dass Putin „die Art und Weise wie Russland aktuell seinen Krieg führt“ nicht mehr lange durchhalten kann. Ziel sei es offenbar gewesen, vor der Vereidigung von Donald Trump noch so viele Gebiete wie möglich zu gewinnen. Doch nach hohen Verlusten, auch beim Material, würden dafür mittlerweile sowjetische Panzer aus den 50er und 60er Jahren eingesetzt. „Sie können nicht mehr so viel nachproduzieren, wie an der Front zerstört wird“, resümiert der Experte.

In dieser Situation könne ein Politiker wie Donald Trump, der „nicht so risikoscheu sei“, womöglich mehr bewegen als die bisher eher zaghaften diplomatischen Versuche, Putin zu Zugeständnissen zu bewegen, glaubt Meister. „Wenn man jetzt den Druck auf Putin erhöht, etwa indem man der Ukraine vorübergehend deutlich mehr Waffen zur Verfügung stellt als Putin erwartet, könnte das auf der russischen Seite einen Dominoeffekt auslösen, sagt der Experte.