Kritik an der Jugendhilfe: SPD-Fraktionssprecherin mahnt sinkende Fallzahlen an - Behörde kontert

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Uneins mit der SPD-Fraktionssprecherin: der Fachbereich Jugend und Familie am Landratsamt. Die Behörde weist fast alle Kritikpunkte zurück. © Thomas Plettenberg

Einer Statistik aus dem Jahr 2021 nach gibt der Landkreis Miesbach pro Kopf oberbayernweit am wenigsten Geld für Jugendhilfe aus. Die SPD-Fraktionssprecherin übt Kritik.

Landkreis – Gibt der Landkreis weniger Geld für Jugendhilfe aus, als es nötig wäre? Diese Vermutung legt Kreisrätin und SPD-Fraktionssprecherin Christine Negele nahe. Sie wirft die Frage auf, warum die Fallzahlen (siehe Kasten) trotz eines steigenden Unterstützungsbedarfs teilweise sinken – und befürchtet, das Jugendamt verschlafe die Spätfolgen der Pandemie. Der Fachbereich Jugend und Familie im Landratsamt weist diese Vorwürfe entschieden zurück. Auf Anfrage unserer Zeitung teilt eine Sprecherin der Kreisbehörde mit, die eingestellten Haushaltsmittel seien wie schon im Vorjahr – gemessen an den Fallzahlen – akribisch kalkuliert worden. „Dass für unseren Bedarf nicht genügend Mittel eingestellt wären, ist nicht nachvollziehbar“, erklärt das Jugendamt.

Steigender Bedarfals Corona-Spätfolge

Negele sieht das anders. Als Sozialarbeiterin in einer psychosomatischen Klinik in Bad Tölz kenne sie die Entwicklung aus der Praxis. „Ich merke im klinischen Alltag einen Anstieg der Fallzahlen in stationärer Behandlung“, erklärt die SPD-Politikerin. Kinder und Jugendliche seien in der Corona-Krise lange allein zuhause gewesen – was bei vielen nicht ohne Folgen geblieben sei. „In der Psychosomatik steigt die Zahl der jungen Erwachsenen, die mit Angst- und Panikstörungen oder Depressionen zu uns kommen.“ Zwar kämen viele der Patienten aus München und nur wenige aus der direkten Umgebung. „Aber wenn man sich die PISA-Studie anschaut und sich anhört, was Lehrer erzählen, dann weiß man, dass ein erheblicher Förderbedarf gegeben ist“, betont Negele. Die Fälle, die von den Schulen oder Eltern nicht aufgefangen würden, seien in der Zuständigkeit des Jugendamtes. Doch dort würden die Fallzahlen eben sinken, sagt Negele.

Kein zwingender Bezug zu Hilfefällen

„Den Eindruck der angestiegenen Zahlen an psychischen Erkrankungen können wir bestätigen“, antwortet darauf das Jugendamt. Dies spiegle sich auch in den zunehmenden stationären Bedarfen von Kindern wieder, deren Eltern nicht in der Lage seien, diese kindeswohlgerecht zu versorgen. Die Statistik betrachtet das Jugendamt allerdings losgelöst davon.

Einerseits würden in der neuen Fachsoftware „OK.JUS“ bei Hilfen für Familien nicht mehr alle zugehörigen Personen erfasst, sondern nur noch eine konkrete Person. „Somit sind die Fallzahlen an sich nicht zurückgegangen, lediglich die Zählweise hat sich verändert“, erklärt das Jugendamt. Dies bezieht sich auf die Sozialpädagogische Familienhilfe und Erziehungsbeistandschaften (siehe Kasten).

Andererseits würden psychische Erkrankungen nicht zwangsläufig einen Jugendhilfebedarf auslösen, erklärt das Amt. Therapien würden zunächst von Krankenkassen finanziert. Und nicht jede Familie suche, benötige oder wolle die Unterstützung der Jugendhilfe. Die ambulanten Fälle würden zwar seit dem Ende der Corona-Beschränkungen wieder steigen – „jedoch noch nicht dem Niveau der Lage vor der Pandemie entsprechend“.

Geringe Ausgaben im Oberbayern-Vergleich

Negele untermauert ihre Vermutung, dass die Zahlen nicht dem Bedarf entsprechen, auch mit einer weiteren Statistik. Darin werden die Ausgaben für Jugendhilfe 2021 für oberbayerische Landkreise verglichen. Miesbach bildete das Schlusslicht mit knapp 97 Euro pro Einwohner. Auch pro Kopf der bis zu 18-Jährigen liegt der Landkreis mit knapp 580 Euro auf dem letzten Platz. Im Schnitt gaben Oberbayerns Landkreise je nach Zählweise knapp 146 oder rund 829 Euro pro Kopf aus.

Christine Negele (SPD)
Christine Negele (SPD) sieht Defizite in der Jugendhilfe. © Thomas Plettenberg

Für die aus ihrer Sicht zu wenigen geleisteten Hilfefälle habe sie zwei Ursachen ausgemacht, schließt Negele: Personalmangel und eine fehlende Jugendhilfeplanung. „Man müsste sich über Bayerns Grenzen hinaus Modelle und Konzepte dazu anschauen, wie integrative Jugendhilfe funktioniert“, erklärt die Kreisrätin. Doch mit der Planung sei erst 2022 begonnen worden. Die Umsetzung läge in der Zukunft und würde dann vom zur Verfügung stehenden Personal abhängen, meint Negele.

Und just in der Personalversorgung gebe es eine „Abwärtsspirale“: Für die Jugendämter würden nicht genug Bewerber gefunden. Mitarbeiter seien überlastet und würden sich deshalb andere Arbeitsplätze suchen.

+++ Lesen Sie auch: Die Ausgaben im der Jugendhilfe im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen steigen seit Jahren – das gilt auch für 2024. +++

Uneinigkeit um Bearbeitungszeiten

Dadurch seien auch die Bearbeitungszeiten sehr lang. „Wir entlassen immer mehr Patienten mit Hilfebedarf, ohne dass eine Hilfe in Aussicht steht“, sagt die Sozialarbeiterin. In üblichen zehn bis zwölf Wochen Aufenthaltsdauer in der Klinik in Bad Tölz komme gerade mal ein Erstkontakt zustande. Und wenn Familien eine Erziehungsbeistandschaft bewilligt werde, dann oft nur für ein bis zwei Jahre. „Das ist nicht zielführend, wenn wir diese Kinder irgendwann im Krankenhaus haben.“

Die interne Vorgabe der Bearbeitungszeiten eines regulären Antrags betrage sechs bis acht Wochen, kontert das Jugendamt. „In einem großen Teil der Fälle kann diese Zeit deutlich unterboten werden.“ Üblich seien zwei oder drei Wochen. Bei Kindeswohlgefährdungen würden Hilfen teils am nächsten Tag, mindestens in derselben Woche bewilligt. Liegt der Fall erst mal bei den Einrichtungen, habe der Fachbereich jedoch keinen Einfluss mehr auf die Zeiten. Die begrenzte Dauer der Hilfen sei indes gewollt, wie das Amt aufzeigt: „Ziel der Jugendhilfe ist stets die Hilfe zur Selbsthilfe.“ Hilfen, die lange laufen, sollten auf ihren Erfolg hinterfragt werden, teilt die Sprecherin mit. Sonst laufe man Gefahr, in eine erlernte Hilflosigkeit zu gelangen.

Zielgruppe wird laut Jugendamt erreicht

Dass die Hilfe wegen der Jugendhilfeplanung vielfach nicht ankomme, wie Negele erklärte, weist die Behörde zurück. Während Negele fürchtet, die Hemmschwelle sei zu groß und bildungsferne Familien würden von den Angeboten gar nicht erfahren, sagt das Jugendamt: „Der Fachbereich macht auf seine Leistungen in zahlreichen Kindergärten und Schulen aufmerksam.“ Auch die Beratungsstellen im Landkreis würden bei Bedarf darauf verweisen. „Durch die gute und weit gefächerte Vernetzung des Fachbereichs können viele Bürger erreicht werden“, erklärt die Behördensprecherin. Als weitere Beispiele nennt sie Jugendsozialarbeit sowie die Polizei, Ärzte oder verwaltungsinterne Stellen.

Einig ist sich Negele mit SPD-Kreisrätin Elisabeth Dasch, die im Jugendhilfeausschuss sitzt, dass dort die Planung stattfinden sollte. Dasch sieht den Ausschuss auf einem guten Weg. Aber: „Natürlich geht das nicht von heute auf morgen.“ Negele hofft deshalb auf schnellere Verbesserungen. „Ich bin als Sozialarbeiterin in der Politik, weil ich nicht nur Pflaster kleben, sondern die Ursache verändern will. Aber das ist manchmal eine zähe Kiste.“ nap

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