Miese Milliarden-Praktiken: Wie der TÜV das Warten ausnutzt
In Hamburg, dort, wo der TÜV Hanse zu Hause ist, gilt das Warten auf einen Fahrprüfungstermin über Monate als nichts Besonderes. Fahrschulen schlagen Alarm, wie die Blätter der Hansestadt ebenso wie der NDR regelmäßig berichten. 16 Wochen, so eine große Fahrschule in der Region, müssten Prüflinge auf einen Termin warten – und, um in Übung zu bleiben, eine Vielzahl von eigentlich überflüssigen Fahrstunden buchen und bezahlen. Auch wenn die Fahrschulen sich auf die "Mängelwirtschaft" des TÜV einstellen, wie ein Fahrlehrer berichtet, gelingt das nicht immer: Zumal, wenn die behördenähnliche Prüfinstitution dann auch noch Termine absagt.
Der TÜV verteile seine Prüftermine nach einem statistisch errechneten Mittelwert, warum auch immer, und nicht nach Bedarf. Die Antwort der staatlich beauftragten Prüfer gegenüber solchen Beschwerden fällt vielsagend aus: Man bestreitet entschieden, dass es so lange dauert. Und man bemühe sich, weitere Fachleute zu finden und einzustellen. Das klingt stark nach "Radio Eriwan": Nein, im Prinzip muss der Kunde nicht lange warten, aber man hat nicht genug Personal, um das zu verhindern.
Immer weniger junge Menschen machen den Führerschein
Manche Fahrschulausbildung kostet so statt rund 2000 bis zu 3000 oder 4000 Euro. Für manche gar nicht leistbar, und die Fahrlehrer sind unglücklich. Denn längst ist der Führerschein unter jungen Leuten nicht mehr so begehrt wie einstmals, und der Verzicht darauf ist keinesfalls mehr ungewöhnlich. Vor allem bei solchen Preisen.
Dabei ist zu konzedieren, dass die Durchfallquote hoch ist. In Berlin besteht rund jeder Zweite die theoretische Prüfung nicht und darf beliebig oft wiederholen. Das verstopft natürlich die Pipeline der nachfolgenden Kandidaten. Und auch in Berlin wartet man Monate. Mehr Prüfer einfach einzustellen, behindert ein Bundesgesetz von 1972. Die müssen nämlich Diplom-Ingenieur sein oder mindestens als Meister länger in einer Kfz-Werkstatt gearbeitet haben.
Der TÜV-Verband hat mehrere Test- und Kontrollverfahren fest im Griff
Dennoch ist der TÜV-Verband, und in wenigen Regionen der Konkurrent Dekra, nicht unzufrieden mit dem Andrang. Eine Aufweichung des Duopols wollen die Betroffenen natürlich nicht. Im Gegenteil: Der ehemalige Dampfkessel-Prüfverein aus dem 19. Jahrhundert versucht, wo er kann, seine explosiv diversifizierten und internationalisierten Test- und Überwachungskompetenzen auszuweiten. Stärkste Repräsentanten in Deutschland sind die drei Holdings bestehend aus den Dickschiffen TÜV Rheinland, TÜV Süd und TÜV Nord. Der TÜV-Verband, dem auch Industrieunternehmen angehören, vertritt die politischen Interessen der Holdings.
Jüngstes Beispiel einer Öffentlichkeitskamapagne: Die ausdrückliche Begrüßung des EU-Vorhabens, Kraftfahrzeuge künftig öfter zur Hauptuntersuchung, dem umgangssprachlichen "TÜV" zu schicken. Ein Schelm, wer dabei auf die Idee kommt, der TÜV könnte etwa auch in Brüssel mit sachdienlichen Beiträgen auftreten, wobei das Sachdienliche möglicherweise künftige eigene Verdienstmöglichkeiten mit abdeckt.
Der Vorstoß zur häufigeren Hauptuntersuchung erntet Kritik
Denn Autos werden immer sicherer. Eigentlich ein Grund, die Hauptuntersuchung (HU) von zwei- auf dreijährigen Rhythmus umzustellen, wie durchaus fachkundige Kräfte aus Industrie und Handwerk feststellen. Der TÜV dagegen sieht in einer Initiative, die mancher als reine Geldschneiderei betrachten dürfte, nur Positives: "Aktualisierung der Prüfvorgaben für Elektrofahrzeuge und Assistenzsysteme ist überfällig. Prüforganisationen erhalten Zugang zu sicherheitsrelevanten Fahrzeugdaten. Die jährliche Prüfung älterer Fahrzeuge leistet einen Beitrag zu Verkehrssicherheit", so der Verband Ende April.
Dabei sind die Zeiten jener Rostlauben vorbei, als die Prüfer noch mit dem Schraubenzieher die neuralgischen Punkte des Studenten-Käfers oder Renault 4 kitzelten und manches Mal glatt durchstoßen konnten. Der Rost war durch die in Mode gekommenen Kunstharze handwerklich geschickt ersetzt worden, schweißen war zu teuer; aber so geht das in Deutschland natürlich gar nicht. Das verhüte der "Technische Überraschungsverein" (Branchenspott).
Wie der TÜV-Verband seine Macht international ausweitet
Seit den 1990er Jahren wurde der TÜV im Zuge einer Liberalisierung nach und nach zu einem umfassenden Untersuchungsunternehmen – und schnell auch bedeutendem Datensammler: Heute prüfen TÜV-Unternehmen "Produkte aller Art, technische Anlagen, Dienstleistungen, Online-Shops, betriebliche Abläufe, Fahrzeuge und vieles mehr", so der Verband leicht untertreibend. Denn international haben sich die einzelnen Regionalholdings den Globus untertan gemacht.
Ob Asien oder Amerika, "the TUEV" ist vielerorts dabei. Seit jener Zeit bemüht sich der Zusammenschluss der Prüfer auch darum, die von Anfang an gewollte, aber nun wohl überkommene Struktur des Behördenähnlichen zu transferieren in eine globale Sicherheitsagentur, die im Eigenbild das Wohlergehen der Kunden und ihrer verbundenen Unternehmen, Mitarbeiter und letztlich der Gesellschaft im Blick hat. Die staatlich-hoheitlichen Aufgaben sind denn auch vor allem in Deutschland im traditionellen Bild der Öffentlichkeit verankert. Im Ausland nimmt der TÜV zwar auch gesamtgesellschaftliche Aufgaben wahr, bemüht sich aber um das Bild des Sicherheitsdienstleisters aus eigener Expertise. Die ist immerhin angesichts der Jahrhunderttradition beachtlich, musste der ehrwürdige Dampfkesselprüfer von anno dazumal doch mit jeder Erfindung Schritt halten.
Zertifizierung und Co. sind ein Milliardengeschäft
In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat besonders das Industrie- und Zertifizierungsgeschäft stark an Bedeutung gewonnen. So erzielten die TÜV-Konzerne Rekordumsätze: TÜV Süd knackte 2023 erstmals die 3‑Milliarden‑Euro‑Grenze (Geschäftsfelder Industrie, Zertifizierung und Mobilität steuerten jeweils etwa eine Milliarde Euro bei) und der TÜV Rheinland wuchs 2024 um 11,2 Prozent auf 2,71 Mrd. Euro Umsatz. Laut Konzernchef Michael Fübi hat man dabei "das Dienstleistungsangebot ausgebaut, neue Labore eröffnet und in die Akquisition von Unternehmen investiert".
In Forschungslaboren, etwa in China, testet man heute neuartige Batterien, Photovoltaik-Module oder autonome Fahrzeugsysteme. Diese Weiterentwicklung dient offiziell dem Ziel, "den technischen Fortschritt sicher zu gestalten". Mitte 2024 arbeitete der TÜV Rheinland mit 63 Prozent seiner rund 26.000 Mitarbeiter außerhalb Deutschlands und erreichte in Regionen wie Indien, China oder dem Nahen Osten starkes Wachstum. Große Unternehmenszukäufe (z.B. der schwedischen Prüfgesellschaft Bilprovningen 2024) stärkten die Marktposition weiter.
Brasilien: Ermittlungen gegen den TÜV nach tödlichem Damm-Unglück
Wie kaum anders zu erwarten, steigen mit Radius und Aufkommen der Tätigkeitsfelder auch die Risiken – meist nicht beim Kunden, sondern im Konzern selbst. 2018/19 machten diverse Skandale von sich reden. "Wenn die Prüfer selbst durchfallen" titelte das Magazin "Der Spiegel" damals und listete akribisch das Versagen bei Großprojekten auf: Im Januar 2019 brach in Brasilien der Damm einer Mine des Bergbaukonzerns Vale. Hunderte Menschen kamen ums Leben. "Brasilianische Ermittler haben daraufhin den Vale-Konzern ins Visier genommen – und die Prüfer des Münchner TÜV Süd, die im Auftrag und auf Rechnung von Vale den Damm überprüfen sollten", so der "Spiegel". "Brasiliens Polizei nahm… deshalb sogar zwei TÜV-Mitarbeiter in Haft. TÜV Süd hatte den Damm 2018 zweimal in Augenschein genommen, im Juni und im September."
Die Prüfungsaktiengesellschaft geriet in schlechtes Licht, hatte sie doch das Rückhaltebecken der Minengesellschaft rückhaltlos zertifiziert. Die Ermittlungen in Brasilien förderten Unglaubliches zutage: "Die Vernehmungen und ein interner Emailverkehr legen nahe, dass die Katastrophe vermeidbar war und das Prüfunternehmen seiner Verantwortung nicht gerecht wurde." Denn die Sicherheitszertifikate seien ausgestellt worden, obwohl den TÜV-Mitarbeitern der schlechte Zustand der Anlage und die Gefahr Monate vor der Zertifizierung bekannt gewesen seien, berichtet das Fachportal "Forum-Recht-Online". Und schlussfolgert: "Der Fall illustriert, wie problematisch die Auslagerung des Risikomanagements und der Verantwortung für riskante Unternehmensaktivitäten an externe Zertifizierungsunternehmen ist, die selbst nicht in der Lage sind, erforderliche Sicherheitsmaßnahmen umzusetzen." Volkstümlich ausgedrückt: Sie wissen, wie’s geht, aber die Umsetzung ist manchmal schwierig.
Folgerichtig gab der Konzern Vale denn auch den Unschuldigen: Man habe eben dem TÜV vertraut und kenne die Ursachen der Katastrophe nicht. Dabei belegten Aussagen und E-Mail-Verkehr, dass es offenbar Versuche gegeben hatte, die TÜV-Prüfer zu korrumpieren. Wer kontrolliert die Kontrolleure, ist seitdem eine häufiger gestellte Frage. Im Juli 2019 belastete dann ein Bericht der britischen BBC den TÜV Süd schwer. Interne Dokumente zeigten, dass die Prüfer in Brasilien sehr wohl wussten, dass der Damm nicht zertifizierungsfähig war: "Die BBC hat E -Mails gesehen, in denen die TÜV-Süd-eigene Analyse des Damms zunächst die offiziellen Anforderungen nicht erfüllt hat", und: "Das Unternehmen lehnte ein Interview ab."
TÜV weist die Verantwortung von sich
Der TÜV wies eine Verantwortung zurück, sprach aber den Angehörigen der 272 Todesopfer sein Mitgefühl aus. Dammprüfungen in Brasilien wolle man künftig nicht mehr vornehmen. Man darf es auch gar nicht: "Im Mai 2019 entzog ein Gericht in Minas Gerais dem TÜV Süd nach einem ersten Urteil die Lizenz zur Zertifizierung brasilianischer Staudämme und verfügte die Sicherung von etwa 13 Mio. Euro Firmenvermögen als mögliche Schadenersatzsumme", berichtet die Spezialnachrichtenagentur "mining.com".
Zu der Katastrophe in Brasilien sagt der TÜV Süd aktuell: "Der Dammbruch in Brumadinho vor sechs Jahren war ein schreckliches Unglück. Unser Mitgefühl ist bei den Opfern und ihren Familien. Wir sind gleichwohl davon überzeugt, dass TÜV SÜD keine rechtliche Verantwortung für den Dammbruch trägt. Die Haftung des Dammbetreibers in Brumadinho wurde in Brasilien bereits festgestellt."
Zahlreiche Gerichtsverfahren sind noch anhängig, darunter auch Strafprozesse in Brasilien. Anfang 2023 formulierte die Bundesstaatsanwaltschaft 21-fache Mordanklage gegen Vale, die TÜV-Süd-Tochter und 16 mutmaßliche Täter, der brasilianische Bundesgerichtshof akzeptierte die Anklage.
Weitere TÜV-Skandale bei Brustimplantaten und Geldanlage-Produkten
Die Skandalgeschichte der Prüfungsunternehmen umfasst im Laufe der Zeit sowohl die fehlerhafte Zertifizierung von Brustimplantaten (“PiP”, 2011) durch den TÜV Rheinland, als auch die offensichtlich nur sehr oberflächliche Begutachtung des S&K-Anlagegruppe durch den TÜV Süd, deren Tätigkeit zahlreiche Anleger um ihr Geld brachte, hunderte Millionen Euro – die Chefs wurden 2013 wegen des banden- und gewerbsmäßigen Betrugs dingfest gemacht. Der TÜV Süd hatte sich mit selbst angefertigten Dokumenten der Firma begnügt und auf dieser Basis sein blaues Siegel vergeben. Die Sparer hielten das allerdings vielfach für ein generelles Qualitätsmerkmal.
Ob Wellness-Wunder oder fantastische Wettervorhersage-Maschinen (begutachtet 2011) – die Fehlleistungen machen natürlich mehr Schlagzeilen als das Brot- und Buttergeschäft. Die TÜV-Gesellschaften zogen teils die Konsequenz, sich aus bestimmten Geschäftsfeldern zu verabschieden, etwa Kapitalanlage oder "medizinische Wellness-Produkte": Das Unternehmen ziehe sich "aus Geschäftsbereichen zurück, die unseren Ruf schädigen könnten", sagte TÜV-Rheinland-Chef Michael Fübi. Was teils noch aussteht, so Experten, ist ein sicheres Instrument, um eine missverständliche Auffassung von TÜV-Siegeln beim unbefangenen Normalbürger zu vermeiden. Etwa bei Internetseiten, die sich als betrügerisch erwiesen – der TÜV hatte sein Zertifikat aber lediglich ausgestellt, um die technische Funktion der Website zu bestätigen. Das hilft natürlich nicht weiter, wenn ein Kunde nach verlässlichen Informationen sucht und abgezockt wird.
Haftung von Zertifizierern bleibt national und international problematisch
Das Einfallstor für Interessenkonflikte bleibt allerdings bislang offen. "So sind beispielsweise am TÜV Süd über den Eigentümerverein TÜV Süd e.V. unter anderem Energiekonzerne wie E.on und Vattenfall beteiligt. Gleichzeitig kümmert sich die Sparte TÜV Süd Industrie Service um die Sicherheit von Kraftwerken und Windkraftanlagen. Im Sommer 2018 etwa vermeldete TÜV Süd stolz, den Zuschlag bekommen zu haben für die Zertifizierung eines großen Offshore-Windparks in der Ostsee", schrieb der "Spiegel". Auftraggeber damals für die Begutachtung: Vattenfall.
Dass es kaum gesetzliche Vorschriften gibt, national wie international, die Zertifizierer haftbar zu machen, wenn sie schlampig arbeiten oder gar betrügen, gilt unter Rechtsexperten als Systemfehler. Die Einheit von Tätigkeit und Haftung für deren Ergebnisse sei dringend zu regeln.