Merz manövriert sich gerade direkt in Richtung Kanzlerabbruch

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Friedrich Merz ist der zehnte Bundeskanzler der Bundesrepublik. Alle wissen um seinen schwierigen Start. Erst im dritten Anlauf wurde er Parteichef der CDU und schließlich Spitzenkandidat der Union.

Erst im zweiten Anlauf hat der Bundestag ihn zum Kanzler gewählt. Das Ende seiner Kanzlerschaft liegt noch im Dunkeln. Aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es kein friedliches wird. Zumindest arbeitet Merz daran.

Friedrich Merz arbeitet zielstrebig daran, Kanzlerabbrecher zu werden

Rückblende: Von den neun Amtsvorgängern haben nur drei, Kurt Kiesinger, Helmut Kohl und Angela Merkel, ihre Amtszeit regulär beendet. Die anderen sechs mussten vorzeitig die Machtzentrale räumen.

Konrad Adenauer wurde nach internen Querelen, beschleunigt durch die "Spiegel"-Affäre, von den eigenen Leuten zur Amtsübergabe an Ludwig Erhard gedrängt. Der entzauberte sich selbst und hielt keine Amtszeit durch; Willy Brandt stolperte über eine Spionageaffäre; Helmut Schmidt verlor erst die Zustimmung der FDP-Minister und anschließend das konstruktive Misstrauensvotum im Bundestag.

Gerhard Schröder begab sich nach vielen verlorenen Landtagswahlen auf die „Flucht in die Neuwahl“, so der "Spiegel"-Titel damals. Wenig später hieß die Kanzlerin Angela Merkel. Deren Nachfolger Olaf Scholz wurde durch die FDP zum Abbruch gezwungen. 

Nach nur drei Jahren Kanzlerschaft saß plötzlich Merz auf seinem Stuhl. Dieser arbeitet seither zielstrebig daran, die Nummer sieben der Kanzlerabbrecher zu werden. Fehler häufen sich und seine Macht ist in dieser frühen Morgenstunde seiner Kanzlerschaft noch unbefestigt. Die wichtigsten Stolpersteine seiner Kanzlerschaft hat Friedrich Merz sich selbst vor die Füße gerollt.

Stolperstein 1: Merz' Verhältnis zur AfD ist nicht stabil

Kurz nachdem er im Wahlkampf erklärt hatte, warum er niemals mit der AfD gemeinsame Sache machen würde, stellte er sich vor die Kameras und erklärte die Frage der Zusammenarbeit für nebensächlich: „Wer diesen Anträgen zustimmen will, der soll zustimmen. Und wer sie ablehnt, der soll sie ablehnen. Ich gucke nicht rechts und nicht links. Ich gucke in diesen Fragen nur geradeaus.“

Beide Positionen, niemals Zusammenarbeit oder Zusammenarbeit im Einzelfall, kann man beziehen. Aber nicht beide Positionen innerhalb von vier Wochen. 

Stolperstein 2: Der Markenkern der CDU in der Finanzpolitik wurde verraten

Der Markenkern der CDU ist seit jeher die finanzpolitische Seriosität. Deshalb war die Schuldenbremse des Grundgesetzes für die CDU immer heilig. Friedrich Merz, vor der Wahl, an die Adresse der SPD: „Wir werden ihnen nicht die Hand dazu reichen, wieder zurückzufallen in die alten sozialdemokratischen Muster einer stetig steigenden Staatsverschuldung. “

Nach der Wahl war alles anders. Merz brauchte die SPD und war erkennbar zu jedem Zugeständnis bereit, solange er nur Kanzler werden durfte.

Stolperstein 3: Sein Wertegerüst erwies sich in der Debatte um die Karlsruher Richterin als wackelig

Erst stimmte er der Ernennung von Frauke Brosius-Gersdorf zu, dann zog er die Zustimmung zurück. Die Konservativen in der CDU sind zwar mit dem Ergebnis zufrieden, aber wundern sich, dass es überhaupt zur Nominierung dieser Juristin kommen konnte.

Ihr Versuch, den Beginn des Lebens auf den Zeitpunkt nach der Geburt zu datieren, ist mit den Traditionen der Christdemokraten nicht vereinbar. Von Friedrich Merz hatten viele erwartet, dass er das von allein bemerkt und nicht erst von einem Aufstand in der Unionsfraktion geweckt werden muss.

Stolperstein 4: Plötzlich steht auch die bisherige Israel-Loyalität infrage

Erst sagte er Benjamin Netanjahu die bedingungslose Unterstützung zu; nun teilt er mit, bis auf Weiteres keine Ausfuhren von Rüstungsgütern zu genehmigen, „die im Gazastreifen zum Einsatz kommen können“.

Gestern Nachmittag unterbrach er seinen Sommerurlaub, um seinen Alleingang in den Tagesthemen der ARD zu verteidigen: „Wir können nicht Waffen liefern in einen Konflikt, der versucht wird, ausschließlich mit militärischen Mitteln jetzt gelöst zu werden... Wohin sollen diese Menschen gehen? Das können wir nicht, das tun wir nicht und das werde ich auch nicht tun.“

Die Außenpolitiker seiner Fraktion sind nicht überzeugt. Sie bewerten die bisherige Staatsräson einer bedingungslosen Unterstützung Israels höher als er.

Stolperstein 5: Ein Mann zieht durch

Merz neigt dazu, seine Kurskorrektur mit sich selbst zu besprechen. Weder in Sachen AfD noch in Sachen Gaza hat er die Absprache mit der CSU – immerhin ein Teil seiner Regierung und Teil der Unionsfraktion – gesucht. Für das Klima innerhalb der Union sind solche Alleingänge Gift. 

Sie zerstören jenes Vertrauen, das schon vorher nicht sehr ausgeprägt war. Im November 2023 hat Merz – der Oppositionsführer – den ehemaligen Kanzler Olaf Scholz als „Klempner der Macht“ bezeichnet. Man wünscht sich heute, diese handwerkliche Auszeichnung würde auch auf den neuen Bundeskanzler zutreffen. Stattdessen musste sich Merz von seiner Arbeitsministerin gestern im ARD-Sommerinterview eine Nachhilfestunde in Sachen politische Kommunikation geben lassen.

Im "ARD"-Sommerinterview sagt Bärbel Bas: „Wir wollten es alle miteinander besser machen als die Ampel. Das sieht im Moment nicht danach aus. “

Stolperstein 6: Alternative ante portas

Die jüngsten Zahlen von Forsa weisen auf einen neuerlichen Einbruch seiner Popularität hin. Das wäre nur halb so tragisch, würde nicht vom selben Institut eine ganz andere Stimmungslage für den nordrhein-westfälischen CDU-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst gemessen. Merz fällt, der Stern von Wüst steigt auf. Das bleibt in der Union nicht unbemerkt. 

Fazit: Natürlich kann Merz auch das Urteil der "Financial Times" über sich („overconfident and underprepared“) empört zurückweisen. Aber er könnte auch eine Nacht darüber schlafen. Nicht jede Kritik ist eine Majestätsbeleidigung. Friedrich Merz ist der Kanzler. Aber er ist nicht der Meister, der vom Himmel gefallen ist.

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